zum Hauptinhalt
Schwarz-rot-goldene Verklärung. Die Erfahrung von Gastarbeiter:innen und ihren Kindern, Afrodeutschen, Jüdinnen und Juden und vielen weiteren als anders markierten Menschen bleibt in der deutschen Gedenkpolitik weitgehend unbeachtet.

© dpa

Nicht nur Rituale an Gedenktagen: Für eine neue Kultur des Erinnerns

Traditionelle Rituale an Gedenktagen spiegeln nicht mehr die Pluralität der deutschen Gesellschaft wider. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit muss auch europäischer werden.

Der Historiker Michal Bodemann beschrieb staatliche und zivilgesellschaftliche Erinnerung in Bezug auf die Shoah schon 1996 als „Gedächtnistheater“. Die Intention dieses Erinnerns ist demnach das bundesrepublikanische Narrativ der Gutwerdung Deutschlands.

Dabei werden Erinnerungsmomente von der Shoah über die terroristische Gewalt der RAF bis zum SED-Unrecht in der DDR als in sich abgeschlossene historische „Kapitel“ behandelt, womit insbesondere Kontinuitäten rechten Terrors abgeschwächt werden.

Diese Deutung der Geschichte führt zu Verzerrungen und Gedächtnislosigkeit – und zu einer Banalisierung der wichtigen Rolle, die Erinnerungskulturen für plurale Demokratien spielen.

Erinnerungskulturen vermitteln eine Deutung von Geschichte, eine Interpretation von Vergangenheit. Sie verraten auch etwas über eine bestimmte Wahrnehmung der Gegenwart durch diejenigen, die Erinnerungsrituale gestalten. Erinnert man beispielsweise an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus vor allem mit Menschen wie Sophie Scholl oder Stauffenberg, so drückt sich darin eine Vorstellung von der Zentralität und Relevanz der bürgerlichen Mitte für eine postnationalsozialistische Gesellschaft aus.

Erscheinen Jüdinnen und Juden ausschließlich als Opfer wie bei den Gedenktagen des 9. November (Pogromnacht) und des 27. Januar (Befreiung von Auschwitz), weist ihnen das auch in der Gegenwart einen Opferstatus zu, von dem sie sich immer neu emanzipieren müssen.

Erinnerungskulturen sind Identitätsangebote. Wer sich wann, wo und wie erinnert und wessen Erinnern sichtbar gemacht wird – durch staatliche Förderung, durch Ausstellungen, Denkmale oder Gedenktage –, all das steht im direkten Zusammenhang mit der Frage, wie sich eine Gesellschaft selbst erzählt, wer zu ihrem Wir dazugehört.

Erinnerungskultur ist also nicht unschuldig. Sie erfüllt ideologische Funktionen. Sie schafft Deutungsangebote und Platz für die verschiedenen Menschen, die eine Gesellschaft ausmachen oder eben nicht.

Das lässt sich an den Jubiläen des Mauerfalls 2019 und der Vereinigung 2020 nachvollziehen. Die Gedenkreden erzählten das Ende der Teilung Deutschlands als glückliche Fügung, auf die alle Bewohner:innen dieses Landes stolz sein dürften. Die Erfahrung von Gastarbeiter:innen und ihren Kindern, Afrodeutschen, Jüdinnen und Juden und den vielen weiteren als anders markierten blieb weitgehend unerwähnt.

Für viele Menschen markieren die Daten 1989/1990 keine Freudenzeit, sondern den Beginn systematischer Übergriffe und Verfolgung – von Rostock-Lichtenhagen über Mölln bis Hoyerswerda und zahlreiche andere. Gerade diese Ambivalenz der Erinnerung mag schwer zu ertragen sein für diejenigen, die den Mauerfall gern als nationale Vereinigungsfeier auf die Bühne des Gedächtnistheaters stellen wollen.

Auch diese Erinnerungsmomente brauchen Raum

Und dann gibt es auch noch die Erinnerungsmomente, die zum pluralen Deutschland und seinen Einwohner:innen gehören, die noch gar keinen Raum im deutschen Erinnerungsnarrativ haben: der Krieg in Afghanistan, in Syrien, im Irak, die Revolution im Iran, die Migration als Ergebnis der Implosion der Sowjetunion, das Leben als Nachfahren kolonialer Unterdrückung.

Auch diese Erinnerungsmomente brauchen Raum, will die plurale Demokratie Erinnerung so gestalten, dass alle Menschen darin repräsentiert werden und nicht nur einige.

Eine plurale Gesellschaft braucht eine andere plurale Erinnerungskultur, die ihrer eigenen inneren Vielfalt gerecht wird. Denn in einer radikal vielfältigen und selbstbewussten Gesellschaft wie der deutschen genügt es nicht mehr, eine Geschichte zu erzählen. Für die Erinnerungskultur ist deshalb nicht erst mit der Debatte um Stadtschloss, Humboldt Forum, Frankfurter Paulskirche und Potsdamer Garnisonkirche eine Zeit der kritischen Selbstbefragung hegemonialer Narrative angebrochen.

Zweifelsohne ist eine solche Suche nach Räumen pluraler Erinnerung keine leichte Aufgabe. Aber wer hätte je behauptet, dass Erinnerung in einer pluralen Demokratie leicht sei.

Wofür eigentlich erinnern? Die Antwort darauf sollte nicht einfach lauten: weil es geschehen ist. Sondern auch: weil es nie wieder geschehen sollte.

Dies bedeutet nicht weniger als den Versuch einer kritischen Neufassung von Erinnerungskultur. Eines der herausragenden verbindenden Charakteristika der Verbrechen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts findet sich im nationalistischen Drang zur Homogenisierung.

Das gilt nicht nur für die Alliterationen des Hasses der jüngeren deutschen Geschichte von Hanau bis Halle, sondern auch für Belfast, Bagdad, Burundi, Bangladesh oder Bosnien-Herzegowina. Eine plurale Erinnerungskultur, die die Gesellschaft so einrichten möchte, dass sich die Verbrechen der letzten Jahrhunderte nicht wiederholen, muss diesen Fantasien von Homogenisierung und nationaler Größe begegnen, die derzeit von Seiten nicht nur europäischer Populist:innen in Stellung gebracht werden.

Solche Fantasien sind nicht die einzige Spielwiese einer politischen Rechten. Vielmehr lässt sich beobachten, wie sich nationalistische und vereinheitlichende Erinnerungsnarrative in der Gegenwart über das gesamte politische Spektrum hinweg verfestigen.

Wenn wir als Teil einer pluralen Gesellschaft also dem homogenisiertem Erinnern die Pluralität der Geschichte entgegenstellen; wenn wir darauf beharren, dass plurale Erinnerungskultur bedeuten sollte, die Gesellschaft so einzurichten, dass sich die Verbrechen der Geschichte nicht wiederholen; wenn wir insistieren, dass Gedenken auch Diskriminierungskritik bedeuten muss, dann wird Erinnerungskultur zu einem Teil der wehrhaften pluralen Demokratie.

Auf deutschen Straßen schreit sich der Antisemitismus heiser

Und diese Wehrhaftigkeit muss auch eine Kritik einseitiger und vereinheitlichender Aufführungen gegenwärtiger Erinnerungskulturen beinhalten.

Auf deutschen Straßen schreit sich der Antisemitismus heiser, während man in den Feuilletons über importierten Antisemitismus diskutiert, als gäbe es keine antisemitische Geschichte und Gegenwart von Gelsenkirchen bis Berlin. Und als seien Israel hassende Demonstrant:innen, deren Eltern und Großeltern irgendwann nach Deutschland kamen, nicht Teil dieser Gesellschaft.

Der Zustand der gegenwärtigen Debatten ist gefährlich, weil er auf der einen Seite eine unglaubwürdige Erfolgsgeschichte inszeniert, während er auf der anderen Seite unterschiedliche diskriminierte Minderheiten gegeneinander ausspielt.

Das hat mehr, als man vielleicht auf den ersten Blick denken mag, mit Erinnerungskultur zu tun. Von „importiertem Antisemitismus“ spricht etwa, wer dem eingeübten Narrativ aufsitzt, dass Deutschland als „Erinnerungsweltmeister“ Antisemitismus bewältigt habe. Und dass deshalb gegenwärtiger Antisemitismus von außen kommen müsse.

Dem steht die Tatsache einer zunehmend pluraleren Gesellschaft gegenüber, in der die Unterscheidung zwischen Deutschen und den Anderen unplausibel wird. Die dabei entstehende Spannung zwischen Gedächtnistheater und Vielfalt macht eine radikale Wende in der Erinnerungskultur möglich.

Ziel ist der Abschied von einem identitätspolitischen, monokulturellen Modell hin zur Etablierung von Erinnerungskulturen, die die Vielfalt deutscher und europäischer Erinnerungsmomente in sich aufnehmen. Und das meint ausdrücklich auch jene Teile der Gesellschaft, die Flucht und Vertreibung, Gewalt und Entmündigung erlebt haben, innerhalb und außerhalb Deutschlands.

Im Rahmen unserer Arbeit der Dialogperspektiven findet diese Anerkennung seit Jahren statt. Unsere Teilnehmer:innen kommen aus ganz Europa, mit vielfältigen religiösen und nichtreligiösen Identitäten und familiären Verbindungen in die ganze Welt und verhandeln vielfältigste Erinnerungsmomente miteinander. Die Pluralisierung deutscher und europäischer Erinnerungskulturen muss zugleich an den Strukturen der Bildungspolitik ansetzen, von der Kita über Lehrpläne bis zur Hochschulpolitik. Es braucht die Beteiligung von Ministerien Religionsgemeinschaften und Kulturinstitutionen, Polizei und Gerichten, damit eine Vorstellung entwickelt werden kann, die Erinnerungskultur im Sinne einer wehrhaften Demokratie neu fasst.

Um diese Entwicklung zu stärken, wurde die „Coalition for Pluralistic Public Discourse“ (CPPD) initiiert, ein Netzwerk von Künstler:innen, Intellektuellen, Wissenschaftler:innen verschiedenster Hintergründe und Disziplinen. Bei dieser Arbeit geht es nicht darum, die in den vergangenen Jahrzehnten entwickelte deutsche Erinnerungskultur in Gänze zu dekonstruieren.

Ziel ist eine Weitung des Blicks. So könnte der 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus auch weitere Gruppen von im Nationalsozialismus Ermordeter in unser Gedenken miteinschließen – Sinti*zze und Roma*nja, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung.

Das klingt kompliziert und ist es auch

Oder man könnte dem 9. November und 27. Januar noch einen weiteren Tag beistellen, der auch an jüdischen Widerstand erinnert. Sei es der 8. Mai, weil viele Jüdinnen und Juden Nazideutschland an der Seite der Alliierten besiegten. Oder sei es der 19. April, an dem 1943 der Aufstand im Warschauer Ghetto begann.

In diesen Vorschlägen kündigt sich nicht zufällig, auch die Europäisierung des Erinnerns an. Die Herausforderungen liegen dabei auf der Hand und reichen von Relativierung bis Gleichsetzung, gegenseitiger Diskriminierung bis Opferkonkurrenz.

Das klingt kompliziert und ist es auch. Aber diese Schwierigkeiten sind Ausdruck einer Spaltung der Gesellschaft, die auch erinnerungskulturell seit Jahrzehnten existiert.

Durch plurale Zugänge, durch Hörbarmachen und Solidarisierung entsteht ein neues Bild der Gesellschaft, in der wir leben. Ein Fokus auf Verschiedenheit der Erinnerung kann dabei in ihren verletzlichen, ihren schmerzhaften und verstörenden Dimensionen die unterschiedlichen Mitglieder dieser Gesellschaft ansprechen. Sie könnte zu einem Katalysator für Veränderungsprozesse werden, die über die vorwegnehmenden Versöhnungsgesten, Kränze, die wohlmeinenden Beschwörungen und das ewige Erschrecken vor der eigenen gewaltvollen Gegenwart hinausgeht.

Diese Gesellschaft hat sich seit 1945 selbst immer wieder das Versprechen gegeben, eine andere, gerechtere, weniger gewaltvolle zu sein. Wenn es dieser Gesellschaft ernst ist mit ihrem Wunsch, anders zu werden, braucht sie auch eine andere Erinnerungskultur. Und diese muss plural sein.

Johanna Korneli ist Programmleiterin des Programms „Dialogperspektiven. Religionen und Weltanschauungen im Gespräch“ und der CPPD. Max Czollek ist Essayist, Lyriker und akademisch-künstlerischer Leiter der CPPD. Jo Frank ist Verleger, Autor sowie Director for Developement der Leo Baeck Foundation. Die Veranstaltung „Perspektiven auf pluralistisches Erinnern“ findet am 7. Juni 2021 im Rahmen der Langen Nacht der Ideen statt. Mehr Informationen unter: https://dialogperspektiven.de/events lndi2021cppd/

Von Johanna Korneli, Max Czollek, Jo Frank.

Zur Startseite