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Kanye West, The Black Keys, Gorillaz, Gonjasufi: Die Alben-Shortlist für den Soundcheck-Award von Tagesspiegel und Radio eins.

© Fotomontage: Mika

Shortlist: Die Kandidaten für den Soundcheck Award 2010

Der Tagesspiegel und Radio eins vergeben wieder den Soundcheck Award: The Black Keys, Gonjasufi, Gorillaz und Kanye West stehen auf der Shortlist. Die richtige Wahl? Diskutieren Sie mit!

Seit vier Jahren streiten jeden Freitagabend vier Musikkritiker in der Sendung „Soundcheck“ auf Radio eins über aktuelle CD-Neuerscheinungen. Oft geht es bei der von Tagesspiegel und Radio eins initiierten Runde kontrovers zur Sache, selten gewinnt ein Album die Zustimmung des gesamten „musikalischen Quartetts“. Nur 18 Alben erhielten 2010 von allen vier Teilnehmern die Höchstwertung „Hit“ – immerhin zwei mehr als im vergangenen Jahr – und qualifizierten sich damit für das Rennen um den Soundcheck Award. Dieser Preis für „das beste Album des Jahres“ wird zum zweiten Mal vergeben.

Ein Wahlgremium von 37 Musikkritikern, Labelmachern, Musikern und Konzertveranstaltern hat aus diesen 18 „Hit“-Alben nun die vier Kandidaten für die Endauswahl ermittelt. Es sind: The Black Keys mit „Brother“, Gonjasuf mit „A Sufi And A Killer“, Gorillaz mit “Plastic Beach” und Kanye West mit “My Beautiful Dark Twisted Fantasy“. Mitte Januar wird in einer kleinen Juryrunde aus Tagesspiegel- und Radio-eins-Kritikern der Sieger gekürt. Diskutieren sie mit! Nutzen Sie dazu bitte die Kommentarfunktion weiter unten auf dieser Seite.

KANDIDATEN FÜR DEN SOUNDCHECK AWARD 2010 (Die Shortlist)

The Black Keys: Brother

Schon im vergangenen Jahr schafften es Dan Auerbach und Patrick Carney mit ihrem Projekt Blackroc in die Shortlist des Soundcheck Awards. Nach dieser bahnbrechenden Kollaboration mit diversen Rap-Größen gelingt dem Duo aus Akron, Ohio das mit seinem sechsten Album erneut. Natürlich völlig zu Recht, denn ihr Blues-Rock ist so trick,- und kenntnisreich, dass man sich ihm nur schwer entziehen kann. Sie scheinen die historischen Vibes aus den Studiowänden im legendären Muscle Shoals direkt in die Bandmaschinen zu kanalisieren. Die White Stripes muss nun wirklich niemand mehr vermissen.

Gonjasufi: A Sufi And A Killer

Klingt wie gut erfunden: Ein Junkie findet mit dem Islam aus der Sucht, lebt mit Frau und Kindern als Yogalehrer in Las Vegas. In seinem Studio am Wüstenrand soll es 50 Grad heiß sein. Der Mann existiert tatsächlich. Mit bürgerlichen Namen heißt der Anfangdreißiger Sumach Ecks, seine Musik ist extrem entschleunigter Electro-Psychedelic-Rock. Ein Debüt als genialisch zusammengehauene Collage aus Weltuntergangsposaunen, Indianergesängen und Status-Quo-Gitarren. HipHop in Slowmotion, der das Vorurteil widerlegt, dass im Pop alles Neue schon einmal dagewesen sei.

Gorillaz: Plastic Beach

Damon Albarn beweist mit dem dritten Album der Comicfiguren-Band ein weiteres Mal, seinen Status als Pop-Genie: Mit unfassbar leichter Hand stellt er Verbindungen zwischen einem halben Dutzend Genres her und bindet Gastsänger wie Snoop Dogg, Lou Reed, Mark E. Smith oder Bobby Womack überzeugend ins Geschehen ein. Mögen ganz große Hits wie „Dare“ oder „Clint Eastwood“ auch fehlen, ist „Plastic Beach“ doch ein außergewöhnlich schlaues, konzises Album auf der Höhe der Zeit.

Kanye West: My Beautiful Dark Twisted Fantasy

Das musste ja so kommen. Das exzentrischste Großmaul im zeitgenössischen HipHop, der Mann, der nicht nur mit etlichen seiner Kollegen, sondern gleich mit zwei US-Präsidenten Beef hatte, dreht endgültig am Rad: Nach dem minimalistischen Autotune-Seelenstrip „808s & Heartbreak“ lässt Kanye West seine Beziehungen und schier unerschöpfliche Geldmittel spielen, um die apathische HipHop-Szene mit einer monströsen Kraftanstrengung wachzurütteln. Das Ergebnis hätte ein Desaster sein können, doch es wurde ein Triumph. Ein Beweis für die lange verschüttete Fähigkeit von HipHop, verschiedenste Ingredienzen zu einem originären Kunstwerk zu verschmelzen. In den knapp 70 Minuten dieses Meisterwerks haben nicht nur diverse hochkarätige Gaststars von Jay-Z, Alicia Keys und Rihanna bis zu Elton John ihren Auftritt, es passiert auch mehr als sonst in einem ganzen HipHop-Jahrgang. Von Progressive Rock bis zu eremitischer Folk-Americana wird alles in einen Malstrom untergepflügt und zu einem pessimistischen Monumentalporträt der Obama Nation unter besonderer Berücksichtigung der Deformierungen von Kanye Wests Seelenlandschaft montiert. Ein Manifest des Größenwahns in einer immer kleiner werdenden Welt. Mehr geht nicht.

AUSSERDEM WAREN NOMINIERT (DIE LONGLIST):

Mose Allison: The Way of the World

Hört man etwa den „Young Man’s Blues“, einen seiner frühen Hits, und gleich danach irgendeinen Song von Mose Allisons jüngster Platte, wird man nicht glauben, dass 53 Jahre zwischen den Aufnahmen liegen. Sicher, die Stimme des einstigen Helden der britischen Bluesrock-Szene von Stones bis The Who ist reifer, aber beileibe nicht alt geworden. Sein schnurriges Pianospiel hebelt immer noch raffiniert alle Grenzen zwischen Blues, Boogie und Jazz aus, und auch die neuen Lieder des mittlerweile 83-jährigen sind weise, humorvolle, melodieverliebte Kunstwerke, die ihm zwischen seinen jüngeren, erfolgreicheren Nachfolgern Bob Dylan und Randy Newman einen Ehrenplatz im Kanon großer amerikanischer Songwriter zuweisen.

Laura Lopez Castro/Don Philippe:Optativo

Ihre spanischen Eltern kamen nur bis Stuttgart, wo sie 1980 geboren wurde und bald zum Dunstkreis der Rap-Formation Freundeskreis gehörte. Dessen Philippe Kayzer begann 2002 mit ihr zusammenzuarbeiten, „Optativo“ ist bereits ihr drittes Album, und es wurde, vielleicht auch dank der Hilfe von Kollegen wie dem brillanten Forscher Hauschka, eine kleine Sensation. Latin-Pop, tieftraurig undeuphorisierend zugleich, gesungen von einer Stimme, wie sie nur ganz wenigen Menschen gegeben ist.

Delphic: Acolyte

Auf Manchester ist in Sachen stilvoller Tanzmusik immer noch Verlass. Matt Cocksedge, Richard Boardman und James Cook schlagen auf ihrem Debütalbum einerseits Brücken in die Glanzzeiten von Factory Records und verweisen andererseits auf jüngere Bands wie Bloc Party, Miike Snow oder Hot Chip. Mit geradezu früh vollendeter Meisterschaft verbinden sie sakral-filigrane Synthesizerflächen und dynamische Rhythmusspuren zu wunderbaren Popsong-Juwelen.

The Devine Comedy: Bang Goes The Knighthood

Hinter The Divine Comedy steckt der nordirische Dandy Neil Hannon. Seit gut zwei Jahrzehnten kombiniert er sanft exzentrische Texte über die britischen Dinge des Lebens mit eleganten Melodien. Auf seinem zehnten Studioalbum, einem verlässlich exquisiten Vergnügen, singt er zu Streichern und Gitarren über die Banker der Londoner City, die verschwindende Kunst der Konversation oder das seltsame Tanzverhalten paarungswilliger Engländer in der Indie-Disco. Musik, die man am besten zum Five o’Clock-Tea hört, mit abgespreiztem kleinen Finger.

Roky Erickson: True Love Cast Out All Evil

Mit seiner Band 13th Floor Elevators gelang dem Texaner 1966 der Proto-Punk-Hit „You’re Gonna Miss Me“, dann schluckte er zu viel LSD und verschwand auf Jahrzehnte im Schlund der Psychiatrie. Nun ist er 63 und singt mit brüchiger, fast flüsternder Stimme und unterstützt von den Neo-Folkrockern von Okkervil River, die seine Enkel sein könnten, von den Abgründen und Auferstehungen seines Lebens. Ein völlig unerwartetes, in jeder Sekunde begeisterndes Meisterwerk, das zwischen Blues, krankem Country und flirrendem Psychedelic Rock oszilliert.

Fehlfarben: Glücksmaschinen

Noch immer zeigt die Düsseldorfer Band, dass Stil und politisches Bewusstsein im Pop zusammengehen können. Für Protest waren sie ja immer schon zu cool und für Mode zu politisch. Deshalb kennt die Fehlfarben-Haltung seit ihrem legendären Erstling „Monarchie & Alltag“(1980) und einer vermasselten Restkarriere keine Halbwertszeit. Auf dem achten Album „Glücksmaschinen“, für dessen Entstehung sie eigens nach Berlin und ins Studio von Moses Schneider reisten, betrauert Sänger Peter Hein die „Stadt der1000 Tränen“ mit derselben unerschütterlichen Wehmut wie einst den Grauschleier über der Stadt. Er braucht keine Aggression, um wie ein Rocksänger zu klingen. Sätze wie „Wir haben Angst, doch leider keine Zeit dafür“ oder „arm zu sein, ist ganz schön teuer“, die man an Häuserwände sprühen könnte, stellen die Musik von selbst aufs Podest. So brutal, entschlossen und angepisst haben die Altpunks lange nicht mehr geklungen.

Flying Lotus: Cosmogramma

Vielleicht ist man erblich vorbelastet, wenn man der Großneffe von John und Alice Coltrane und damit an die Tradition durchgeknallter Free-Jazz-Experimente angekoppelt ist. Jedenfalls unternimmt der 27-jährige Kalifornier Steven Allison unter seinem Alias Flying Lotus überaus waghalsige Schlingerfahrten durch die unendlichen Weiten zeitgenössischer Electronica. Dabei kommt er seinen Verwandten ebenso nah wie den kosmischen Krautrock-Kurieren der Siebziger oder den visionären Abstraktionen, mit denen Warp-Labelkollegen wie LFO oder die frühen Nightmares On Wax in den Neunzigern die elektronische Musik auf links krempelten.

Cee Lo Green: The Lady Killer

Mit „Fuck You“ (auch bekannt unter dem jugendfreien Titel "Forget You”) gelang der singenden Hälfte von Gnarls Barkley einer der großen Hits des Jahres. Von seinen HipHop-Wurzeln hat sich der Glanzenträger aus Atlanta mittlerweile völlig losgesagt und stattdessen ein astreines Soul-Album aufgenommen. Damit liegt Cee Lo Green voll im Trend, zu dem auch Aloe Blacc oder mit etwas Abstand Plan B gehören.

I Like Trains: He Who Saw The Deep

Elegischer, mächtig aufbrausender Kopfnicker-Rock von vier Melancholikern aus Leeds. Jeder Song ein Drama. Auf dem zweiten Album der Band geht es wieder um die ewigen, großen Themen des Männerdaseins. Verlierertum und Verlassenwerden, unerfüllbare Sehnsucht und der Alkohol, der trotzdem nicht hilft. Die Gitarren wehklagen, das Schlagzeug rumpelt wie bei Joy Division, Erlösung ist nicht zu erwarten. „Hope ist not enough“, flüstert die Baritonstimme von Sänger David Martin. Alles bleibt spannend, denn die Lage ist hoffnungslos.

Mutter: Trinken Singen Schießen

Sie sind mehr als eine Band. Freunde? Ja auch. Seit 24 Jahren. Aber vor allem: eine Schutzformation um Sänger und Texter Max Müller. Sie schütten ihre Musik wie einen Erdwall um die brüchigen Botschaften des Poeten auf. Undurchdringlich in seiner Brachialität. Rätselhaft in seiner spröden Einfachheit. Da es mit der Karriere als Musiker nicht geklappt hat, halten die fünf an der Musik um ihrer selbst willen fest und gehen ansonsten honorigen Nebenberufen nach. Unberechenbarer als die Berliner kann man nicht sein. Jeder Song des Albums ruft seine eigene Gemütsverfassung hervor, unbeschwert geht es im malmenden Gitarrengetöse niemals zu. Sie sind lauter als andere deutsche Rockbands, aber auch besser.

The Phantom Band: The Wants

„Kraut trifft Hillybilly im Funk-Puff“, ist über die Musik der sechs Schotten aus Glasgow gesagt worden. Man wüsste es gerne etwas genauer, aber das geht nicht. Im vergangenen Jahr erhielten sie genau dafür den Soundcheck-Award. Etwas, das so frei mit den Möglichkeiten des postmodernen Archivs umgeht, muss gut undrichtungsweisend sein, befand die Jury. Ihren hypnotischen Stil-Vandalismus,der sich auch noch auf Soul und nordischen Folk ausdehnt, setzen sie auf dem zweitenAlbum „The Wants“ fort.  Die Songs sind ökonomischer aufgebaut als auf dem Debüt. Trotzdem sprießen wieder aus kleinsten Ideen opulent verzweigte Arrangements. Aber Magie lässt sich nicht wiederholen. 

School Of Seven Bells: Disconnect from Desire

Das Debütalbum dieses New Yorker Trios war vor zwei Jahren ein Meilenstein kunstvoll verzerrter Gitarren und Beleg für den mächtigen Einfluss, den My Bloody Valentine auch 15 Jahre nach ihrem letzten Lebenszeichen noch immer auf alle Shoegaze-Bands dieser Welt haben. Auf dem Nachfolger sind die Gitarren-Drones zugunsten frostiger Synthesizer weit in den Hintergrund gemischt, dafür steht der betörende Gesang der Zwillingsschwestern Claudia und Alley Deheza im Zentrum eines Klangbilds von kristalliner Klarheit.

The White Stripes: Under Great WhiteNorthern Lights

Seit Meg White es nervlich nicht mehr schafft, mit ihrem Kompagnon Jack White auf Tour zu gehen, liegt die Duoband auf Eis. Jack White hat sich andere Mitstreiter gesucht. Von ihr hört man nichts. Da tut ein Livealbum gut, aufgenommen im Sommer 2007, das noch einmal an all die Qualitäten dieser ungewöhnlichen Partnerschaft erinnert. Zwei Leute, alte Instrumente und ein höllischer Lärm – mehr benötigten die White Stripes nicht, um zu den Kraftquellen der Rockmusikzurückzukehren.

Woven Hand: The Threshing Floor

David Eugene Edwards gehört zu den unheimlichsten und faszinierendsten Figuren des amerikanischen Pop-Geschäfts. So hat der tief religiöse Ex-16-Horsepower-Frontmann auch auf seinem sechsten Soloalbum wieder einen extrem eigenwilligen Finster-Folk geschaffen, in dem es um Höllenqualen, Vergebung und Erhebung geht. Ein Solitär.

Die Jury:

Alexandra Distler (freie Musikjournalistin), Alke Lorenzen (Radio eins) Andreas Becker (freier Musikjournalist), Andreas Müller (Moderator), Arne Willander (Rolling Stone), Christian Schröder (Tagesspiegel), Christian Seidl (BamS), Christine Heise (freie Musikjournalistin), Christof Ellinghaus (City Slang), Detlef Diedrichsen (Haus der Kulturen der Welt), Eric Pfeil (freier Musikjournalist), Esther Kogelboom (Tagesspiegel), Gudrun Gut (Musikerin), Guido Möbius (Musiker, Promoter), Helmut Heimann (freier Musikjournalist), Jens Balzer (Berliner Zeitung), Jörg Wunder (Tagesspiegel), Jürgen König (Radio eins), Kai Müller (Tagesspiegel), Laf Überland (freier Musikjournalist), Elissa Hiersemann (Radio eins), Lorenz Maroldt (Tagesspiegel), Markus Hablizel (freier Musikjournalist), Martin Böttcher (freier Musikjournalist), Martin Rabitz (Trinity Concerts), Maurice Summen (Musiker, Staatsakt), MC Lücke (Radio Eins), Nadine Lange (Tagesspiegel), Peter Radszuhn (Radio eins), PR Kantate (Musiker), Ruben Jonas Schnell (Moderator), Steen Lorenzen (Radio eins), Simon Brauer (Radio eins), Thomas Groß (Die Zeit), Tobias Rapp (Der Spiegel), Uwe Viehmann (freier Musikjournalist), Vivian Perkovic (freie Musikjournalistin)

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