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Jean-Jacques Rousseau: Querkopf der Aufklärung

Er gilt als Frauenverachter, kaltherziger Rabenvater und Voltaires Antipode. Andere Philosophen priesen die Vernunft, Rousseau aber warnte – auch vor zu viel Moderne. Stimmen denn all die Klischees über ihn? Eine Würdigung zum 300. Geburtstag.

Am Morgen des 1. November 1755 ereignet sich in Lissabon ein gewaltiges Erdbeben. Im Boden reißen meterbreite Spalten auf, in mehreren Vierteln brennt es. Viele Bewohner flüchten zum Hafen, werden dort von den Flutwellen eines Tsunamis überrascht. Die Brände wüten noch tagelang, am Ende ist das Stadtzentrum komplett verwüstet. Bis zu 100 000 Menschen finden in Lissabon den Tod.

Das Erdbeben löst unter Theologen und Philosophen eine heftige Debatte aus. Wie kann ein allmächtiger und gütiger Gott ein so schreckliches Unglück zulassen? Die erste Antwort kommt von den katholischen Priestern. Sie deuten das Ereignis als Strafe Gottes für eine sündige Hafenstadt. Dann melden sich die Philosophen zu Wort, allen voran der berühmte Voltaire, nach dem die Franzosen heute noch die Epoche der Aufklärung benennen. Er verspottet nicht nur die Bußprediger, sondern sieht im Erdbeben eine Widerlegung der Doktrin, dass Gott die beste aller möglichen Welten allein zum Wohle des Menschen geschaffen habe. Für ihn handelt es sich um einen rein physikalisch-geologischen Vorgang.

Es ist der in Genf geborene und in Paris lebende Jean-Jacques Rousseau, der sich mit dieser Antwort nicht zufriedengibt. Der 43-Jährige erwidert Voltaire in einem Brief, das Erdbeben sei weder auf eine göttliche Absicht zurückzuführen noch auf ein Naturereignis zu reduzieren. Hätten die Menschen solche Städte erst gar nicht gebaut, wären die Schäden, wie auf dem Lande, viel geringer ausgefallen. Rousseau hält also das wahre Unglück nicht für eine Wirkung der Natur, sondern für eine Folge der menschlichen Zivilisation. Im Unterschied zu Voltaire insistiert er auf der Frage nach Schuld und Strafe, nur beantwortet er sie anders als die Geistlichen. Nicht Gott habe den Menschen bestraft, sondern der Mensch habe sich selbst durch einen verfehlten Fortschritt geschadet.

Diese Deutung ist bis heute aktuell geblieben. Fukushima hat einmal mehr gezeigt, wie sich das Unheil des Tsunami um ein Vielfaches potenzierte, weil ihm eine zu riskante Technik nicht standzuhalten vermochte. Wir haben Schwierigkeiten mit der Natur, weil wir ihre Katastrophen selbst erzeugen.

Rousseau sieht das Grundübel der modernen Zivilisation darin, dass sie sich immer mehr von der Natur entfernt. Zwar propagiert er kein „Zurück zur Natur“, wie ihm häufig nachgesagt wird, wohl aber einen Zustand auf einem mittleren technischen und wirtschaftlichen Niveau. Dabei geht es ihm nicht nur um das Verhältnis des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt, sondern vor allem auch um die eigene menschliche Natur. Sie gerät ebenso in Schwierigkeiten, wenn sie sich von ihren Ursprüngen entfremdet.

Die Anfänge dieser umfassenden Zivilisationskritik gehen auf das Jahr 1749 zurück, Rousseau war damals ein unbekannter Privatsekretär, Notenkopierer, Gelegenheitskomponist und Hauslehrer. Beim Zeitungslesen entdeckte er die Preisfrage der Akademie von Dijon, „ob die Fortschritte in Wissenschaft und Künsten zu einer Läuterung der Sitten“ beigetragen haben. Seine Antwort bestand in einem radikalen „Nein“. Im Gegenteil, so behauptete er: „In dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Künste zur Vollkommenheit fortschritten, sind unsere Seelen verderbt geworden.“ Die durch Wissenschaft und Technik erzeugten Umgangsformen bestünden in Wirklichkeit in dem anerzogenen und damit unnatürlichen Zwang, seine wahren Gefühle zu verbergen.

„Keine aufrichtigen Freundschaften mehr, kein wirkliches Ansehen, kein gegründetes Vertrauen. Verdächte, Argwohn, Furcht, Kälte, Reserve, Hass, Verrat verbergen sich ständig unter dem gleich aussehenden und scheinheiligen Schleier der Höflichkeit – hinter jener so gepriesenen Urbanität, die wir der Aufklärung unseres Jahrhunderts verdanken.“

Die Akademie honorierte den rhetorisch brillanten Diskurs über die Wissenschaften und Künste mit dem ersten Preis – und machte Rousseau schlagartig berühmt. In den intellektuellen Zirkeln und gelehrten Zeitschriften ganz Europas wurden seine Thesen debattiert.

Als sich wenige Jahre später die Gelegenheit zur Teilnahme an einer weiteren Preisfrage bot, vertiefte er seine Kritik im Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Hier machte er nicht nur den wissenschaftlichen Fortschritt, sondern den menschlichen Verstand überhaupt haftbar für alle gesellschaftlichen Übel. In dem Maße, wie sich der Verstand entwickle, pervertiere der Selbsterhaltungstrieb des von Natur aus guten Menschen zum rücksichtslosen Egoismus.

„Es ist der Verstand, der die Selbstsucht erzeugt. Sie ist es, die den Menschen sich auf sein Ich zurückziehen lässt. Sie ist es, die ihn vereinzelt. Sie ist daran schuld, dass er beim Anblick eines leidenden Menschen heimlich sagt: stirb, wenn du willst; ich bin in Sicherheit.“

Mit dieser Schrift erntete der Philosoph dann doch Kopfschütteln bei einigen Kollegen, die in ihrem Kampf gegen die klerikalen Dunkelmänner das Licht der Vernunft hochhielten. Voltaire übersah geflissentlich die theoretischen Feinheiten und machte sich nur lustig. In einem launigen Brief ließ er Rousseau wissen, er sei seit 60 Jahren aus der Übung, auf allen Vieren zu laufen. Aber auch Denis Diderot war nicht amüsiert, dass da ein Weggefährte so viel Sand ins Getriebe warf, während er selbst gegen Zensurbehörden, die einflussreiche katholische Kirche und den Verleger zu kämpfen hatte, um sein gigantisches Enzyklopädie-Unternehmen am Laufen zu halten.

Ausgerechnet gegen den renommierten Mitherausgeber dieses aufklärerischen Paradeprojekts, Jean Le Rond d’Alembert, schoss Rousseau dann noch einen Pfeil ab. Der hatte in seinem Artikel „Genf“ vorgeschlagen, in der calvinistischen Stadt doch zur Erbauung und Belehrung der Bürger ein Theater einzurichten. Rousseau veröffentlichte einen „Brief an d’Alembert“, in dem er das Schauspiel als ungeeignetes Mittel zur Förderung öffentlicher Tugenden verdammte und sich vehement gegen den für Frauen angeblich widernatürlichen Beruf der Schauspielerin aussprach.

Da platzte auch Diderot der Kragen, das Verhältnis zu Rousseau kühlte sich merklich ab. Zumal der Freund zunehmend wunderlicher wurde. Dauernd beklagte er sich über seine Armut, doch als ihm ein adliger Gönner einen hochdotierten Posten anbot, lehnte er ab, weil er „unabhängig“ bleiben wollte. Zwar kämpfte er darum, als Komponist anerkannt und an der großen Pariser Oper aufgeführt zu werden, aber ständig mäkelte er am Leben in der Großstadt herum. Er zog sich aufs Land zurück, verherrlichte das einsame Leben in der Natur, um dann immer wieder nach Paris zurückzukehren.

Es ist dieser schwierige Charakter, der seiner Umgebung, aber auch ihm selbst zu schaffen machte. Auch wer Leben und Werk des Philosophen nicht kennt, hat davon gehört, dass er seine zwischen 1747 und 1752 geborenen fünf Kinder ins Waisenhaus gab. Man kann nur ahnen, wie der Mutter, seiner über 33 Jahre lang treuen Gefährtin Thérèse Levasseur, zumute gewesen sein muss.

Das Bild vom kaltherzigen Rabenvater dominiert auch deshalb die Erinnerung an Rousseau, weil ausgerechnet er mit Fug und Recht als der Erfinder der Kindheit und der modernen Pädagogik gilt. In seinem 1761 erschienenen Erziehungsroman „Emile oder über die Erziehung“ rechnete er schonungslos mit der Praxis ab, Kinder durch Zwang und Strafen zu kleinen Erwachsenen abzurichten. Er machte Schluss mit dem strammen Wickeln der Babys, dem stupiden Auswendiglernen des Katechismus und dem ewigen Stillsitzen. Stattdessen propagierte er eine Erziehung, die auf die Entfaltung der natürlichen Anlagen des Menschen setzt. Er plädierte für das frühe Musizieren, handwerkliche Tätigkeit, das Einüben von Empathie. An der Geschichte seines Vorzeigezöglings Emile demonstrierte er, wie sich das Kind durch Stimulation der Sinne und durch körperliche Bewegung in freier Natur zu einem autonomen Individuum entwickeln kann, das im Einklang mit seiner äußeren und inneren Natur zu leben versteht.

Dieses Buch, das sofort von der Zensur beschlagnahmt wurde und seinem Autor Verfolgung und Verbannung eintrug, hat das Kulturschicksal des europäischen Kindes entscheidend geprägt. Die Pestalozzi, Fröbel, Montessori oder Freinet sind ohne den Emile undenkbar. Aber es hat nicht nur den Umgang mit Kindern revolutioniert, sondern das Bild vom Menschen als eines emanzipierten, selbstbestimmten und mündigen Individuums tief in das kollektive Bewusstsein eingeschrieben.

Allerdings gilt das nur für den Mann. Von der Frau entwirft Rousseau ein anderes Menschenbild. Als der Protagonist Emile ins heiratsfähige Alter kommt, lässt er im fünften Kapitel seines Bestsellers Sophie als ideale Lebensgefährtin auftreten. Unter Berufung auf die biologischen Anlagen des weiblichen Geschlechts dominieren bei ihr häusliche und private Tugenden wie Sanftmut, Bescheidenheit und Mütterlichkeit. Ihre intellektuellen Fähigkeiten werden hingegen als beschränkt und nicht förderungswürdig eingeschätzt. Das abstrakte Denken ist dem Mann vorbehalten.

„Alle Reflexionen der Frauen über das, was nicht unmittelbar mit ihren Pflichten zusammenhängt, sollen auf das Studium der Männer zielen oder auf angenehme Erkenntnisse, deren Gegenstand nur das Geschmackvolle ist; denn was die Werke des Geistes anbetrifft, so übersteigen sie ihr Fassungsvermögen.“ Es sind Sätze wie dieser, die weltweit Frauenrechtlerinnen empörten. Vollkommen zurecht, denn bis ins 20. Jahrhundert hat die Strahlkraft des Rousseau’schen Entwurfs von Weiblichkeit wesentlich dazu beigetragen, dass Frauen von Bürgerrechten, höheren Bildungseinrichtungen, letztlich aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen und in die private Sphäre verbannt wurden.

Was um Himmels willen bewog diesen Mann dazu, immer wieder seine Verachtung für gebildete Frauen zu bezeugen, obwohl der Uhrmachersohn aus Genf wahrscheinlich ohne die intellektuelle, moralische und finanzielle Förderung durch die Damen de Warens, Dupin, d’Epinay, de Luxembourg als verkrachte Existenz geendet wäre?

Einige Rousseau-Forscher vermuten dahinter die Angst vor Kastration eines von Nierenkoliken und Potenzstörungen zeitlebens Geplagten. Dabei unterschätzen sie aber den Theoretiker Rousseau. Denn seine Weiblichkeitskonzeption ist eng mit seiner Zivilisationskritik verknüpft. In den beiden Diskursen bestand diese Kritik ja darin, dass die Vernunft zum Egoismus führt, sobald sich der Mensch von seinen natürlichen Wurzeln entfernt. Um dieser Depravation Einhalt zu gebieten, weist er der Frau im System seiner Eindämmungsversuche eine besondere Rolle zu.

Er stuft den weiblichen Menschen auf das „goldene Zeitalter“ zurück und lässt Sophies Verstand im konkret Anschaulichen verharren. Wenn die Frau ausgeschlossen bleibt vom männlichen Vernunftdenken, bleiben ihre Gefühle, ihre Mitmenschlichkeit verschont von Entfremdung. Dieses spontane Moralempfinden ist jedoch überlebensnotwendig für jene Bereiche, für die Frauen zuständig sind. Im Gegensatz zur männlichen Welt der konkurrierenden Geschäfte sind bei der Aufzucht der Kinder und der Pflege von Alten Eigenschaften wie Selbstlosigkeit, Zärtlichkeit und Mitleid gefragt. Die Frau wird zum moralischen Geschlecht.

Allerdings können sich diese naturhaft guten Anlagen der Frau nur in einem dem goldenen Zeitalter ähnlichen Schonraum behaupten. Als Wesen aus einer anderen Zeit ist sie nicht in der Lage, den Widrigkeiten der depravierten Gesellschaft zu trotzen. In seinem fast zeitgleich mit dem Emile geschriebenen Roman „Julie oder die neue Heloise“ schafft Rousseau dann mit dem Landgut Clarens einen solchen Schonraum. Leserinnen aus ganz Frankreich versuchten daraufhin, es der tugendhaften Romanheldin gleichzutun.

An den Folgen dieser „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“, wie es die Historikerin Karin Hausen einmal genannt hat, arbeitet sich unsere Gesellschaft bis heute ab. Zwar ist das Sophie-Prinzip zum Glück mittlerweile aus der Mode. Aber, so paradox es klingen mag, vielleicht legt Rousseau ausgerechnet mit seinem unsäglichen Weiblichkeitsentwurf wiederum den Finger auf eine Wunde der Moderne.

Denn die neuerliche Begeisterung für die Karrieremutter verdrängt, dass die bestehenden männlichen Karriere- und Machtmuster nur funktionieren, solange sie gestützt werden durch eine Frau, die sich optimal um Hausarbeit, Kindererziehung, Altenpflege und sonstiges Gedöns kümmert. Folglich gehört künftig zu all den Quotenfrauen, die sich nun in diese Karrieremuster einpassen sollen, auch eine Frau oder ein Mann, die/der das traditionell weibliche Rollenmuster ausfüllt. Sonst funktioniert dieses Modell weiterhin nur in Einzelfällen und wird nicht in Serie gehen. Es sei denn, die bestehenden Aufteilungen, Hierarchisierungen, Prestigezuschreibungen und Bewertungen gesellschaftlicher Arbeit ändern sich grundsätzlich. Das würde der Querdenker der Moderne wohl heute fordern.

Lieselotte Steinbrügge, Johannes Rohbeck

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