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Landeplatz auf Tschukotka, einer Halbinsel im Norden Russlands..

© Ulrike Ottinger

Ulrike Ottinger und ihre Nordmeer-Expedition: Schlemihl am Ziel

Auf Humboldts Spuren: Ulrike Ottinger ist in die Beringsee gereist. Und dokumentiert ihre Expedition in einer Ausstellung und einem Film.

Hier sind seit Jahrtausenden Menschen hin- und hergegangen wie über einen schmalen Steg, der zwei Kontinente trennt und verbindet, hier „funktioniert der Austausch zwischen Rentiernomaden und Meeresjägern noch genauso wie früher“. Im Sommer 2014 reist die Berliner Künstlerin Ulrike Ottinger in die Beringsee, besucht die Inseln zwischen Russland und Alaska, Asien und Nordamerika, schreibt in ihr Logbuch, filmt, fotografiert, spricht mit den Menschen und erkundet eine Welt, die selbst im 21. Jahrhundert als schwer erreichbar gelten kann. In der Berliner Staatsbibliothek, Potsdamer Straße, breitet sie ihre Schätze aus.

Ulrike Ottinger, 1942 in Konstanz geboren, am schwäbischen Meer, hat Reiseerfahrung. Ihre Filme hatten immer schon den Charakter ausgedehnter Expeditionen. „China. Die Künste – der Alltag“, „Johanna d’Arc of Mongolia“, „Taiga“ tragen die Ferne schon im Titel, aber auch ein Film wie „Freak Orlando“, noch zu West-Berliner Zeiten entstanden, suchte Exzentrik und Exotik in der eigenen Kultur. Vielleicht sind viele Künstler und Schriftsteller ohnehin Ethnologen – wenn man an die Surrealisten im Paris der Zwanzigerjahre denkt, an Antonin Artaud oder Hubert Fichte.

Lobrede auf die "Vorfahrer"

Im Nordmeer war sie nicht allein. Ulrike Ottinger reiste mit einem kleinen Filmteam und mit ein paar berühmten Herren: Georg Forster, Alexander von Humboldt, Adelbert von Chamisso. Berühmt, aber auch weitgehend vergessen, das gilt für Forster, der 1772 mit James Cook um die Welt segelte und ein großes Buch darüber schrieb. Forster war ein Freund und Mentor Humboldts – dessen große Reise führte von 1799 bis 1804 durch weite Teile Südamerikas. Chamisso brach 1815 zu einer Weltumsegelung auf, Humboldt war sein Idol. „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, ein kleines Reisebuch, ist das Werk, das sich mit seinem Namen verbindet; wie es dem Mann ergeht, der dem Teufel seinen Schatten verkauft.

„Die Schriften meiner Vorfahrer (sic!) lesen sich für mich wie Schauspiele einer Vergangenheit, die in der Gegenwart immer wieder aufgeführt werden, aber auch ins Repertoire des Vergessens versunken oder der unwiederbringlichen Zerstörung anheimgefallen sind“, schreibt Ulrike Ottinger. Sie gibt etwas zurück: „Chamissos Schatten“ wird ihr Film von der Kamtschatka und den Aleuten heißen, er kommt im März ins Kino und soll vorher auf der Berlinale zu sehen sein. Die Ausstellung „Weltreise. Forster – Humboldt Chamisso – Ottinger“ in der Staatsbibliothek zeigt schon jetzt 960 Minuten Filmmaterial von der Reise in den Norden.

Ulrike Ottinger
Ulrike Ottinger

© Anne Selders/Staatsbibliohek

Die Bilder laufen auf vier Großleinwänden in einer Jurte. Der Ausstellungsraum der Stabi imaginiert das Ziel der Reise. Fischer beim Sortieren und Ausnehmen ihres Fangs, beobachtet von großen, hungrigen Vögeln, die auf ihren Anteil warten, und davor, in einer Vitrine, kleine Wale, die die Vorfahren jener Menschen im Film auf den Aleuten aus Treibholz geschnitzt haben. Chamisso hatte Wale gezeichnet – die Blätter sind hier zu sehen –, die Holzfische brachte er mit von der großen Reise.

Ein Brief von James Cook, ein Reisetagebuch von Humboldts Zeichnungen, Tabellen der Forschungsreisenden des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts liegen hier ausgebreitet, lauter wunderbare Dinge, die man sonst nicht zu Gesicht bekommt im Original. Auch die aztekische „Maisgöttin“, eine Steinskulptur, die Humboldt aus Mexiko eingeführt hat und die normalerweise in Dahlem im Depot liegt, grüßt hier die Völker des Nordens. Es herrscht eine feierliche Dunkelheit in Ottingers Jurte. Der Himmel, das Meer sind weit und verbreiten intensives Licht – man tritt ein und hat Berlin vergessen. Der Boden scheint zu schwanken wie auf einem Schiff.

Die große Frage, die sich hier stellt, lautet natürlich: Was kann man mitbringen von einer Reise an die Enden der Welt? Was bleibt, und was haben die Menschen davon, die aufgesucht wurden? Zu Zeiten von Cook und Chamisso wurden schon bald die letzten Wissenslücken auf dem Globus geschlossen. Nach ihnen kam noch Charles Darwin, auch ihn hat Ulrike Ottinger in der Ausstellung mit einem Brief an Alexander von Humboldt. Es kamen die Industrieschiffe, das Militär, zumal auf den Aleuten. Hier war eine eiskalte Grenze im Kalten Krieg.

Stimulans für die Fantasie

Der Kampf zwischen Mensch und Natur ist auf diesen Inseln noch nicht ganz entschieden. Die Reste der Sowjetkultur verfallen malerisch. Und es springt ins Auge: Der kostbare Rohstoff, den die Reisenden, von Chamisso bis Ottinger, hier mitnehmen, ist eine Art Droge, ein Stimulans für die Fantasie. Der Mensch kann nicht anders, als auf die Reise zu gehen. Er ist geboren als Nomade. Künstler und Forscher sind auffällige Vertreter der wandernden Spezies. Es ist ein romantisches Weltbild, das Ulrike Ottinger zeigt, dem sie nachjagt auf ihre ruhige Art.

Sie hat Zeit zu entdecken: zum Beispiel eine „Gefäßpflanze“, eine Überlebenskünstlerin der Natur. Sie hat die Form eines Kissens, sie ist typisch für die Tundra, sie hat Haare auf den Blättern, die isolieren und Wärme leiten ins Innere der Pflanze. Ulrike Ottinger hat auf der amerikanischen Seite der Beringstraße viele orthodoxe Kirchen entdeckt, mit den charakteristischen Zwiebeltürmen. Auf russischer Seite sind solche Kirchen in der Sowjetzeit verschwunden.

Eine Entdeckung ist auch Adelbert von Chamisso wert, Preuße, Franzose, Abenteurer, 1781 in der Champagne geboren, 1838 in Berlin gestorben. Zerrissen zwischen zwei Ländern, die sich bekriegten in der napoleonischen Zeit. Chamisso hat auf seiner dreijährigen Reise die Welt erkundet, von der Südsee zur Beringsee, er war ohne Amt und Titel, als er nach Berlin zurückkehrte: „Student bin ich noch und weiter nichts“, mit 37 Jahren. Seine Leidenschaft galt dem Botanischen Garten. Auch Chamisso war so eine „Gefäßpflanze“, ein Träumer. Er sah aber schon eine „fortgeschrittene, von Dampfschifffahrt, Eisenbahnen und telegraphischen Linien durchfurchte Welt“ kommen, eine ganz andere als „die unserer Zeit“.

Humboldt reiste auf eigene Kosten, Chamisso mit einer russischen Expedition. Ulrike Ottingers Projekt wurde von der Kulturstiftung des Bundes unterstützt. Ohne die Staatsbibliothek wäre es auch nichts geworden. Barbara Schneider-Kempf, die Generaldirektorin der Staatsbibliothek, kündigt an, man werde die Ausstellung selbst auf Reisen schicken, mit Tagebüchern anderer Reisender, mit Dokumenten aus anderen Zeiten und Ländern. Wenn man aus der Jurte kommt und die Eingangshalle durchquert und auf der Potsdamer Straße steht, sieht man – die Stabi hat den Umriss eines Dampfers.

Staatsbibliothek, Potsdamer Str. 33, bis 27. 2., Mo–Mi, Fr/Sa 11–19 Uhr, Do 13–21 Uhr. Eintritt frei. Katalog 39,90 €. Die Galerie Johanna Breede, Fasanenstr. 69, zeigt Fotos von Ottingers Reise. Im Kino Arsenal läuft bis 9. Februar die Reihe „Weltreisen“.

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