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Superhelden von der Resterampe: Die Thunderbolts könnten Marvel retten
Die Krise der Weltenretter greift in Hollywood um sich, gesucht werden Nachfolger für Captain America und Iron Man. Die Lösung ist unerwartet: Diese Superhelden dürfen auch menschliche Schwächen zeigen.
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Wenn sich im Marvel-Universum Schatten über New York legen, sind gewöhnlich ein außerirdisches Raumschiff oder irgendwelche gigantischen Objekte aus einer anderen Dimension Ursache für die Sonnenfinsternis. Und man konnte mit einiger Verlässlichkeit davon ausgehen, dass nach dem Showdown wieder eine irdische Metropole in Schutt und Asche liegt – bis das Spektakel selbst Fans nur noch ein müdes Gähnen entlockte.
Die Krise des Marvel Cinematic Universe (MCU) nach dem letzten großen Finale in Phase drei, mit dem Doppel „Avengers: Infinity War“ und Avengers: Endgame“, hat bei Fans und dem Franchise eine große Leere hinterlassen.
Die Dunkelheit, die im Finale von „Thunderbolts*“ über die Straßenzüge von New York kriecht und die Menschen zu Schatten ihrer selbst reduziert, ist dagegen irdischer Natur. Eine große Depression legt sich über die Welt – stellvertretend für das Marvel-Franchise und ein paar erschöpfte Superheldinnen und -helden, die nach dem großen „Blip“, der kurzzeitig die halbe Menschheit ausgelöscht hat, immer noch nach einer sinnstiftenden Beschäftigung suchen.
„Ich spüre eine große Leere“, sagt Yelena Belova (Florence Pugh), die von ihrer toten Schwester Natascha Romanoff den Nom de Guerre Black Widow geerbt hat, auf dem Sims des zweithöchsten Gebäudes der Welt. „Oder ich bin einfach gelangweilt!“ Und stürzt sich pflichtbewusst in den Abgrund, um hundert Stockwerke tiefer ungerührt ein paar Schergen in einem Forschungslabor auszuschalten. Ein ganz normaler Arbeitstag für eine Supersoldatin.
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Die Avengers sind tot, es leben die .... ja, wer jetzt eigentlich? Nach einer Antwort hat auch Disney einen ganzen Erzählzyklus lang im MCU gesucht. Als Nachfolger drängte sich niemand auf: Sam „Falcon“ Wilson musste in „Captain America: Brave New World“ erst noch in sein Kostüm hineinwachsen, der ehemals russische „Winter Soldier“ Bucky Barnes (Sebastian Stan) verteidigt Amerika inzwischen im US-Kongress.
Dort sitzt er in einem Ausschuss, der die Machenschaften von CIA-Direktorin Valentina Allegra de Fontaine (Julia Louis-Dreyfus in vollem „Veep“-Modus) untersucht. Die hat – in Ermangelung verlässlicher Weltenretter – im Geheimen ihr eigenes kleines Supersoldaten-Programm aufgebaut. Um nun die Beweismittel zu beseitigen, heuert sie ein paar „entbehrliche“ Superhelden an – von denen sich nach sieben Filmen und acht Serien in Phase vier so einige angesammelt haben. Die Reinigungskräfte sollen nach Erledigung der Drecksarbeit auch gleich mit entsorgt werden.
Underdogs mit mittelprächtigen Superkräften
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass man bei Disney nach dem Scheitern, geeignete Nachfolger für Tony „Iron Man“ Stark, Steve Rogers’ originalem Captain America und Natasha Romanoff zu finden, nun buchstäblich auf Restposten zurückgreifen muss. In den Trailern ging man damit sogar hausieren. (Robert Downey Jr. wiederum wird im kommenden Jahr in anderer Kapazität, als Dr. Doom, zurückkehren.)
Die Thunderbolts waren in der MCU-Phase vier bloß Nebenfiguren. Yelena Belova (Florence Pugh) und ihr Vater Alexei Shostakov (David Harbour) aka Red Guardian – das russische Pendant zu Captain America – waren Sidekicks in „Black Widow“, John Walker (Wyatt Russell) spielte eine Betaversion von Captain Amerika in „The Falcon and the Winter Soldier“, Ava „Ghost“ Starr (Hannah John-Kamen) dürfte nur Hardcore-Fans als Paul Rudds Gegenspielerin in „Ant-Man and the Wasp“ in Erinnerung geblieben sein.

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Sie gehen also mit wenig Ballast ins dritte Jahr von Phase fünf – nachdem sich Disney im vergangenen Jahr mit dem Marvel-Crossover-Hit „Deadpool & Wolverine“ begnügt hat. Emotional allerdings gibt es einiges aufzuarbeiten, und das hat nicht nur mit dem mangelnden Selbstwertgefühl als Beschützer der Menschheit zu tun. Dass niemand die Thunderbolts vermissen würde, ein Haufen Underdogs mit mittelprächtigen Superkräften, aber ausgeprägten Kindheitstraumata, ist der Running Gag im Marvel-Debüt von Indie-Regisseur Jake Schreier.
„Indie“ ist auch der Unique Selling Point von „Thunderbolts*“: Alles soll wieder eine Nummer kleiner ausfallen. Natürlich ein Hohn angesichts der Tatsache, mit welcher Wucht Disney in den vergangenen Jahren mit Marvel-Filmen kleine, unabhängige Produktionen von den Kinoleinwänden verdrängt hat. Dass das alles eine grundlegend falsche Entwicklung ist, wissen auch die Heldinnen und Helden in „Thunderbolts*“.
Es macht, bei allem Zynismus, schon Spaß zu sehen, wie sehr sich der Film dagegen sträubt, wieder die alten Formeln zu bedienen. Vor allem Florence Pughs Yelena trägt schwer an der Bürde – zudem der eines Vaters, der ihre Erziehung dem russischen Geheimdienst überlassen hat.

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Zwischen emotionaler Erschöpfung, kämpferischem Trotz und Fremdschamgefühlen gegenüber dem Vater schwingt sie sich schließlich zur heimlichen Anführerin der Gang auf, die nach ihrem Junior-Softballteam benannt ist – das selbstverständlich nie ein Spiel gewonnen hat. Klingt seltsam, aber ihre Rollen in „Midsommar“ und „Don’t Worry Darling“ erweisen sich rückblickend als perfekte Vorbereitung für ihre erste Hauptrolle als Superheldin.
Weltenretter mit bipolarer Störung
Schon mit den Avengers konnten man sich am besten identifizieren, wenn sie Dingen nachgingen, die einem aus dem eigenen Alltag vertraut sind – zum Beispiel mit den Kumpels abgekämpft im Imbiss sitzen und Schawarma essen, wie in der Post-Titel-Sequenz von „Avengers“ (2012). In „Thunderbolts*“ ist der unwahrscheinlichste Endgegner – und gleichzeitig loyalste Verbündete – ein traumatisierter Ex-Junkie mit einer bipolaren Störung, den Yelena & Co in Valentinas Labor auflesen.
Bob (Lewis Pullman), der in seinen dunkelsten Momenten seine Stimmung an der Welt auslässt, ist der jüngste Zuwachs im Marvel-Universum. Und auch wenn die Menschheit für seine Superkräfte – darin ähnelt er dem Hulk – einen hohen Preis zu zahlen hat, ist die rührige Hilflosigkeit in Pullmans Gesichtsausdruck von allen Nahkampftechniken in „Thunderbolts*“ der entwaffnendste Move.
So ist der Showdown in „Thunderbolts*“ konsequenterweise auch keine Materialschlacht, sondern eine Therapiesession in Bobs alternativer Realität. Die Botschaft „Du bist nicht allein“, mit der Yelena den Jungen wieder der Dunkelheit entreißt, ist vielleicht nicht der originellste Schlüsselsatz in einem Superheldenfilm, sie hat aber tatsächlich einen emotionalen Effekt, den man im MCU längst nicht mehr erwartet hätte.
Selbst bei den Avengers war bei aller Kameradschaft immer eine latente Konkurrenzsituation spürbar. Die Thunderbolts sind also nicht nur die New Avengers, wie die Post-Titel-Sequenz verrät, sie stellen damit vor allem die achtsame Variante einer Weltenretter-Equipe dar. Es gilt jetzt auch, das Seelenheil zu retten. Der Kampf gegen galaktische Schurken und das Multiverse-Jetsetten verträgt sich eben nicht mit der Work-Live-Balance.
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