
© Piero Chiussi
Theatertreffen 2012: Susimaus und die Ampeln von Halle
Die Qual der Wahl 2012: Mit der Jury einmal quer durchs deutschsprachige Bühnenland. Das Reisetagebuch einer Kritikerin.
Stand:
In René Polleschs „Kill your Darlings!“ befürchtet Fabian Hinrichs, dass sein Netzwerk selbständig „den ganzen Freundeskreis austauscht“. Wenn man als Jurorin des Theatertreffens ein Jahr lang kreuz und quer durch Deutschland, Österreich und die Schweiz gefahren ist, um die „zehn bemerkenswertesten Inszenierungen der Saison“ ausfindig zu machen, weiß man genau, wovon Hinrichs spricht: Der Reisejob tauscht in der Tat das komplette soziale Umfeld aus. Wenn ich ausnahmsweise mal zu einer sozial verträglichen Zeit meine Berliner Wohnungstür aufschließe, bin ich immer wieder gespannt, wie mein Lebensgefährte eigentlich aussieht. Dafür weiß ich jetzt alles über Bahnreisende, bundesweite Theaterabonnenten und Taxifahrer.
Mit den Bahnreisenden teile ich die meiste Lebenszeit, nämlich ungefähr 840 Stunden im Jahr, also etwa zwei komplette Arbeitstage pro Woche. Dass die eigentliche Berufsausübung im Theaterparkett mit knapp elf Wochenstunden etwas dahinter zurückbleibt, liegt nicht nur an den langen Anfahrtswegen zur Luzerner oder Ingolstädter Hochkultur, sondern auch daran, dass nicht jeder Weg zwangsläufig zum Ziel führt. Letzten Dezember klingelte zum Beispiel im ICE kurz vor Bonn-Bad Godesberg mein Mobiltelefon. Ich beobachtete gerade ein Ehepaar, das sich seit sechs Stunden mit einer eigens mitgeführten Stoffmaus unterhielt: „Was meinst du, Brigitte, ob die Susimaus auch ein Ei möchte?“ Am anderen Ende der Leitung war eine Kollegin, die schon einen früheren Zug nach Bad Godesberg genommen hatte. „Du, ich stehe hier vorm Theater und habe gerade erfahren, dass die Vorstellung heute Abend ausfällt; ein Schauspieler ist plötzlich krank geworden.“
Bier in Bad Godesberg
Zugegeben: Kurzfristig können derartige Hiobsbotschaften dazu führen, dass man der Susimaus am liebsten den abgegriffenen Hals umdrehen würde. Aber im Nachhinein haben sich gerade solche Fehlversuche, die vornehmlich zur Grippe- hochsaison und Hauptjuryreisezeit im Winter auftreten, stets als fruchtbar erwiesen. Denn bei keiner Jurysitzung lernt man die ästhetischen und mentalen Schmerzgrenzen seiner Kolleginnen und Kollegen so gut kennen, wie wenn man mit ihnen im verregneten Bad Godesberg alternativ zum ausgefallenen Theaterbesuch einen Bierausschank sucht oder in Zürich, der laut „Economist“-Ranking teuersten Stadt der Welt, eine Bockwurst, die das Budget nicht auf Wochen ruiniert.
Und außerdem ist es ja so, dass selbst die nicht unmittelbar zielführenden Reisen zur beruflichen Fortbildung beitragen. Nach 840 Stunden Deutsche Bahn weiß man, dass nicht nur Bühnenstücke, sondern auch Zugfahrten einer nahezu aristotelischen Dramaturgie folgen. Der klassische Jury-Reisetag beginnt mit der Platzsuche im sogenannten Ruhebereich des ICE. Denn enttäuschenderweise basiert die Theatertreffen-Auswahl – ganz anders, als man es immer wieder liest und selbst auch wahnsinnig gern vollbringen würde – nicht auf esoterischer Hexerei, sondern auf einem stinknormalen Argumentenaustausch: Jeder Juror muss seinen Mitstreitern über sämtliche gesehenen Aufführungen schriftlich Bericht erstatten, was eben am besten im Ruhebereich gelingt. Den erkennt man an kinderhandgroßen blauen Schildern mit einem durchgestrichenen Handy und dem Hinweis „Pssst“, die in großzügigen Abständen in Gepäckablagehöhe prangen. Die Bahn hat in diesem Punkt ausnahmsweise alles richtig gemacht und den Ruf nach einem modern-zurückhaltenden Design erhört: Es ist sogar so diskret ausgefallen, dass der Großteil der Fahrgäste es gar nicht bemerkt.
"Buhu, macht der Elefant"
Wir haben noch nicht den Berliner Hauptbahnhof verlassen, als eine ambitionierte Mittdreißigerin ihrem Kind eine sehr tierlautintensive Geschichte vorzulesen beginnt, die nebenbei auch massive biologische Fachfragen aufwirft. „Buhu, macht der Elefant“, ruft die Frau nämlich durchs Abteil. Ich hatte bis dato immer die Schauspielerin Margit Bendokat für die stimmgewaltigste Berlinerin gehalten. Aber solche eingeschränkten Wahrnehmungsraster baut man in der Bahn ratzfatz ab: Die lautesten Talente verschwenden sich im Ruhebereich des ICE! Wenn man der Mittdreißigerin dann betont freundlich die Botschaft des „Pssst- Schildes“ ins Ohr flüstert, kann es sogar passieren, dass anschließend tatsächlich Ruhe ist – bis kurz hinter Hannover, wo der Zug in aller Regel seinen ersten „außerplanmäßigen Halt“ einlegt und mindestens 17 Fahrgäste gleichzeitig ihr Telefon zücken: „Du, wir stehen jetzt hier.“ Ich hatte vor meiner Reisetätigkeit nicht die leiseste Ahnung, was sich aus diesem Satz alles entwickeln kann. Auch die professionelle Dramatik lässt einen da ziemlich hängen. Vorn links wird auf der Basis von „Du, wir stehen jetzt hier“ lässig Edward Albees Ehe-Stress-Klassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ in den Schatten gestellt: „Na super; du stehst ja immer irgendwo rum, während alle anderen rotieren!“ Hinten rechts lässt eine Mitreisende Tschechows „Krankenzimmer Nr. 6“ alt aussehen: „Wir stehen wenigstens hier, aber die Erna kann gar nicht mehr stehen, ich habe das offene Bein ja im Krankenhaus gesehen: Die haben den Eiter da kellenweise rausgeholt.“
Seither fehlt mir jedes Verständnis für zeitgenössische Schweige-Dramen, in denen die Schauspieler meterweit voneinander entfernt mit bebender Gesichtsmuskulatur angeblich unverbalisierbare Spannungen ausagieren. In Wahrheit scheint nichts so hemmungsfrei zu funktionieren wie die zwischenmenschliche Kommunikation. Mir hat sich Marshall McLuhan jedenfalls während meines ganzen Philosophiestudiums nicht so fundamental erschlossen wie auf einer einzigen Fahrt im Ruhebereich des ICE: „Das Medium ist die Botschaft“. Oder, um mit Herbert Fritsch und dem Ensemble der Berliner Volksbühne zu sprechen, „Murmel Murmel“. Sobald sich der Zug drei Minuten später wieder in Bewegung setzt, klemmen sämtliche Smartphones erneut an den Ohrmuscheln: „Du, wir fahren jetzt wieder.“
Die DDR kennt man nirgends so gut wie im Rheinland
Im Gegensatz zum gläsernen Fahrgast der Deutschen Bahn ist das Theaterpublikum, mit dem ich die zweitmeiste Lebenszeit verbringe, eine ungeheuer originelle Spezies. Und absolut lokalspezifisch: So solidarisch und aufklärungsbewusst wie in Köln geht es jedenfalls in keinem anderen bundesdeutschen Zuschauerraum zu. „Trinken Sie den bloß nicht!“, ruft meine Sitznachbarin in einer Aufführung, in der ausnahmsweise Rotwein ins Parkett gereicht wird, mit einer empathischen Eindringlichkeit, als griffe ich gerade zu einem Giftcocktail. „Der Wein ist am Schauspiel Köln ganz schlecht!“ Während sie mir anschließend im Flüsterton die komplette foyereigene Spirituosenkarte auseinandersetzt, betritt eine Japanerin die Bühne und beginnt von einer vermeintlichen DDR-Kindheit in einem Altbau mit sechs Zimmern, Stuck, Parkett und ungefähr fünf Balkonen zu sprechen. Jetzt fährt meine Nachbarin wie von der Tarantel gestochen von ihrem Sitz hoch: „Glauben Sie das ja nicht!“, beschwört sie mich mit hochrotem Gesicht. „Die lebten dort ganz beengt!“
Tatsächlich scheint man sich mit der DDR nirgends so gut auszukennen wie im Rheinland. Eines Bonner Februarmorgens an der Bushaltestelle Richtung Flughafen – es ist halb sechs und regnet in Strömen – hockt eine einsame Gestalt im Wartehäuschen und presst ihr Ohr an ein altes Kofferradio. „Stalin, Mielke, Honecker“, flüstert der Mann in einer konspirativen Diktion vor sich hin, als habe er dem Rauschen soeben völlig neue welthistorische Zusammenhänge entnommen. „Krenz, Tisch, Axen“. Dann erhebt er sich von seiner Bank, schlurft ein paar Schritte in Richtung Straße und wirft kämpferisch den freien Arm in die Luft. „Scheiß Ossis!“, brüllt er mit Inbrunst in den trüben Morgenhimmel. „Seit zwanzig Jahren nichts dazugelernt!“
Der weltweit gefürchtetste Bühnentrend: das Mitmachtheater!
Ich wohnte hier zweifellos eine der besten Doku-Performances der Saison bei – auch, wenn ich sie inhaltlich so nicht bestätigen kann. De facto zeigt sich das Publikum nämlich nirgends so wissbegierig und unerschrocken wie in Dresden. Vor allem, wenn der weltweit gefürchtetste Bühnentrend zur Anwendung kommt: das Mitmachtheater. Als die Schauspieler in einer Inszenierung von Brechts „Puntila“ androhen, sich für die stumme (und auch sonst eher undankbare) Rolle eines Arbeiters jemanden aus dem Parkett zu greifen, gehen nicht etwa – wie man das aus allen Zuschauerräumen von Augsburg bis Zürich kennt – sämtliche Köpfe nach unten, sondern gleich drei Hände mit Eifer nach oben wie früher in der Grundschule.
Dennoch: Meine Lieblingsstadt bleibt Halle. Dort traf ich letztes Jahr Manfred, der mich bis heute beschäftigt, weil ich ihm partout nicht befriedigend erklären konnte, warum ich auf der Suche nach den kulturellen Leuchttürmen ausgerechnet das Prinzen-Konzert auslasse, zu dem er eigens angereist war. Dieses Jahr rettete mich in Halle Günther. Ich suchte einen Taxifahrer, der mich Punkt 21 Uhr an einem nicht direkt zentral gelegenen Theater abholen und zum Bahnhof fahren konnte. Der letzte Zug nach Berlin ging 21 Uhr 04. „Keine Chance“, winkte ein Fahrprofi nach dem anderen ab. Auch Günther meinte, 21 Uhr sei völlig aussichtslos. In meinem Kopf spulten sich bereits sämtliche Hallenser Übernachtungsoptionen ab, als er plötzlich sagte: „20 Uhr 58!“ Ich schaute irritiert. „Wenn Sie genau zwei Minuten vor neun am Theaterausgang stehen, schaffen wir an der Hauptstraße die grüne Ampelphase um 21.01“, rechnete er mir vor. „An der Finkenallee bin ich abends 49 Sekunden schneller, weil rechts aus dem Bachweg nach acht eigentlich keiner mehr rausfährt. Dann haben wir an der letzten Kreuzung zweieinhalb Minuten Puffer. Das reicht!“
Günther behielt recht. Für mich begann an diesem Abend in Berlin noch die Biergartensaison.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: