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Kultur: "The Claim": Im Westen was Neues

Wo die wilden Kerle wohnen, in Kingdom Come weit oben in der Sierra Nevada, da wohnen sie noch nicht sehr lange. Europäer sind sie von Geburt, sie kommen aus Irland und Schottland - und die wilden Mädchen aus Polen oder Portugal.

Wo die wilden Kerle wohnen, in Kingdom Come weit oben in der Sierra Nevada, da wohnen sie noch nicht sehr lange. Europäer sind sie von Geburt, sie kommen aus Irland und Schottland - und die wilden Mädchen aus Polen oder Portugal. Eine der ersten Fragen, die sie sich mit ihren wechselnden englischen Akzenten stellen, heißt stets: "Woher kommst du?".

Nein, dieses Amerika des Jahres 1867, in das uns Michael Winterbottom da entführt, die raue Welt der Siedler, Goldsucher und Eisenbahnbauer, ist bis ins Sprachtimbre hinein nicht das Amerika, das wir aus üblichen fernwestlichen Filmen kennen. Der Brite Winterbottom, der das Kino mit jedem Film immer wieder neu erfindet, erzählt uns im Gewande des Western eine europäisch geprägte Geschichte. Er poliert das ordentlich verweste Genre auf, indem er es abpoliert. Er gibt ihm Farbe zurück, indem er die Palette mitunter fast ins Schwarzweiße reduziert. Ja, er hat einen glänzenden Film gedreht, mit ungeschminkten Gesichtern.

Los geht es ähnlich wie im letzten der großen Western, in Clint Eastwoods "Erbarmungslos". Der Pionier Dillon (Peter Mullan) regiert wie ein Despot in Kingdom Come; fürs Entertainment ist die Bordellbesitzerin Lucia (Milla Jovovich) zuständig, die mit Dillon außerdienstlich das Bett teilt. Doch statt eines Fremden kommen zwei Gruppen Fremde ins Dorf: der Landvermesser Dalglish (das unvergessliche, junge Gesicht aus "American Beauty": Wes Bentley) mit seinen Kollegen von der Central Pacific Railroad, und ein seltsam stilles Mutter-Tochter-Paar (Nastassja Kinski als hinfällig Verhärmte und Sarah Polley, das unvergessliche junge Gesicht aus Atom Egoyans "Das süße Jenseits"). Die beiden seien verarmte ferne Verwandte Dillons, heißt es im Dorf. Sehr behutsam stellt sich heraus: Sie sind mehr als das.

Der Rest ist ein sehr klassischer Motiv-Mix aus Machtkampf zwischen Männern, aus Liebe, Familie und Tod, aus Beharren und Fortschritt auch: Wird die Bahnlinie durch Kingdom Come führen oder durch ein, zwei Täler weiter? Und was wird aus Kingdom Come, wenn man anderswo eine veritable Stadt gründet, die, warum nicht, Lisboa heißen könnte? Schließlich sind sie alle Europäer in dieser Welt hier. Michael Winterbottom erzählt seine große Geschichte visuell opulent, von der prächtigsten Totale bis zur intimsten Großaufnahme, aber vom Gestus her mit äußerster Zurückgenommenheit. Ein Kammerspiel entfaltet sich da statt eines Leinwandschinkens, ein Kammerspiel unter kaltem, weitem Himmel. Und selbst Michael Nymans Musik diszipliniert sich ausnahmsweise ins motivisch Unerlässliche - und Stimmige - hinein. Den Rest besorgen ein geschwätzfreies Drehbuch und die ausgezeichneten Schauspieler. Ist "The Claim" also ein Bären-Kandidat? Durchaus, sofern die Berlinale-Jury sich bei der Wahl zwischen starken Solitären nicht einig werden sollte.

Michael Winterbottom hat mit "The Claim" zum zweiten Mal nach "Jude" einen Roman Thomas Hardys glückhaft verfilmt - und diesmal sogar den britischen Stoff von "The Mayor of Casterbridge" ins schroffe präpazifische Gebirge verpflanzt. Er gedeiht, weil Winterbottom auf Mätzchen verzichtet. Wenn das Gefühl einen dann packt, den einen hier, die andere da, dann wunderbar durchsichtig und ganz.

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