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Die zerstörte japanische Stadt Kisenuma nach dem Erdbeben und dem Tsunami 2011.

© dpa

Ulrich Becks letztes Buch: Katastrophe und Kalkül

Ulrich Becks letztes Buch „Die Metamorphose der Welt“ erscheint posthum auf Deutsch. Es erfasst eine Epoche im Umbruch - und bietet zahllose Anschlussmöglichkeiten.

Sie hat die Qualitäten eines Bonmots, die Warnung aus der Medikamenten-Werbung, zu Risiken und Nebenwirkungen befrage man seinen Arzt oder Apotheker – so selbstverständlich kommt uns vor, was dort behauptet wird: Jede erwünschte Wirkung kann unerwünschte Nebenwirkungen haben, man muss das eine gegen das andere abwägen, notfalls unter Zuhilfenahme von Experten. Im Prinzip steckt darin das Werk des Soziologen Ulrich Beck in griffiger Form. Ulrich Beck war der Denker des Risikos und der Nebenfolgen. Der Titel seines berühmtesten Buchs, „Risikogesellschaft“, wurde zum Schlagwort von diagnostischer Kraft. Es erschien 1986, kurz vor der Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl, die seine These auf erschreckende Weise belegte. Es sind gerade die Erfolge der Moderne, die Nebenfolgen zeitigen, deren Risiken kalkuliert und gemanagt werden müssen. Was aber, wenn die Sache aus dem Ruder läuft?

Immer wieder kommt es zu Katastrophen, die alle bisherigen Kalkulationen über den Haufen werfen. Dass Angela Merkel, gestärkt von ihrer Kompetenz als Naturwissenschaftlerin, auf die Kernschmelze von Fukushima mit dem Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie reagierte, war ein vernünftiges Kalkül. Wer aber traut sich zu, alle Faktoren abzuwägen? Und wie kann das bei komplexen Prozessen gelingen? Gerade in der Hoch- Technologie sind die Experten zugleich auch diejenigen, die am Fortbestand einer Technik wirtschaftliches und persönliches Interesse haben.

11. September, Brexit, Trump: Das Undenkbare tritt ein

Ulrich Beck hat die Wirkung solcher Katastrophen als „anthropologischen Schock“ theoretisiert. Etwas tritt ein, was für unwahrscheinlich oder sogar undenkbar gehalten wurde: die Terroranschläge des 11. September, die katastrophalen Folgen des Klimawandels, die Krise des Finanzmarkts. Auch den Mauerfall und Edward Snowdens Enthüllung der „totalitären Überwachung digitaler Kommunikationswege“ rechnete er zu den Phänomenen, die unsere Auffassungsgabe übersteigen. „Wahnsinn“, rufen dann alle. Oder: „Ich begreife die Welt nicht mehr.“

Den Brexit und die Wahl Trumps müsste man ebenfalls dazurechnen. Nimmt die Häufigkeit solcher Ereignisse zu? Der am Neujahrstag 2015 bei einem Spaziergang im Englischen Garten in München an einem Herzinfarkt gestorbene Soziologe wäre zurzeit sicherlich ein gefragter Gesprächspartner. Sein neuestes Buch entwickelt Kategorien, mit denen sich die grundlegende Veränderung der Welt beschreiben und verstehen lässt. Aus gutem Grund spricht er von einer „Metamorphose der Welt“, also von einer Verwandlung und nicht von einem Wandel.

Seinen unerschütterlichen Optimismus könnte man momentan gut gebrauchen. Womöglich hat er ihm dabei geholfen, die Lage so klar zu beschreiben. Immer noch hantiert die Politik mit dem Konzept des Nationalstaats. Dabei führen wir alle längst kosmopolitische Existenzen. Und zwar beileibe nicht nur diejenigen, die neuerdings so gern als „Establishment“ oder „Elite“ verunglimpft werden. Mit dem Smartphone in der Hand sind wir pausenlos weltweit vernetzt, kommunizieren oder lösen Warenbestellungen rund um den Globus aus. Die Daten lagern auf Servern, die sich an keine Landesgrenzen halten. Selbst die modernen Fluchtbewegungen sind ohne Smartphone nicht zu denken. Erstaunlich, dass Angela Merkel im Herbst 2015 verkennen konnte, welche Wirkung ihre Willkommensgeste erhält, wenn sie in Echtzeit überall auf der Welt wahrgenommen wird. Das wäre ein gutes Beispiel für die Brauchbarkeit des „Metamorphosen“-Konzepts. Es lässt sich als eine Art Update des Bewusstseins verstehen, das erlaubt, die Dinge, die wir praktizieren, in unsere Kalküle einzubeziehen.

Durch die Hintertür der Nebenfolgen

Die zerstörte japanische Stadt Kisenuma nach dem Erdbeben und dem Tsunami 2011.
Die zerstörte japanische Stadt Kisenuma nach dem Erdbeben und dem Tsunami 2011.

© dpa

Die unterschiedliche Gesetzgebung und der differierende Lebensstandard verschiedener Länder werden durch alle Gesellschaftsschichten hindurch zum eigenen Vorteil verwandt: Unternehmen lassen dort produzieren, wo es billiger ist, Finanzexperten bringen Vermögen in Steueroasen in Sicherheit, Anleger spekulieren an der Börse, Konsumenten haben sich an billige Waren gewöhnt, Arbeitnehmer pendeln zwischen Ländern, um ihre Lebenshaltungskosten niedriger als ihr Einkommensniveau zu gestalten. Das geht bis zur Reproduktionsmedizin, wenn Paare aus Ländern, in denen Keimzellenspende und Leihmutterschaft verboten sind, in anderen Ländern Kinder austragen lassen, und setzt sich fort bei der Transplantationsmedizin. Wer nichts außer seinem Körper besitzt, verkauft eine Niere oder andere Organe. Die operativ entstehenden „kosmopolitischen Körper“ waren früher undenkbar, ebenso die „pränatal kosmopolitisierte Patchworkfamilie“ der Reproduktionsmedizin. Sie macht es möglich, dass ein Kind drei Mütter hat: die soziale Mutter, die es als ihres betrachtet, die Leihmutter, die es austrug, und die Eizellenspenderin. Da können leicht ebenso viele Nationalitäten zusammenkommen, von den Vätern ganz zu schweigen.

Durch die „Hintertür der Nebenfolgen“ werden die „anthropologischen Grundfesten des Lebensbeginns (...) neu konfiguriert“. Zugleich entstehen diffuse Rechtsräume, die von keiner nationalen Gesetzgebung geregelt werden. Ein solches „Niemandsland der Verantwortung“ kann sich im Reproduktionsgewerbe fatal auswirken; etwa wenn die beteiligten Erwachsenen um ein Kind streiten, aber auch wenn am Ende keiner die Elternschaft übernimmt, weil es nicht den Erwartungen entspricht.

Internetuser sollten eine Vorstellung von den Risiken haben, die sie eingehen

Der Klimawandel und die Digitalisierung sind die beiden Globalisierungsphänomene, bei denen die Zusammenarbeit der Weltgemeinschaft am plausibelsten erscheint, weil die Bevölkerung aller Staaten davon betroffen ist, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Doch wie hat man sich das vorzustellen? Den Klimagipfel in Paris, der immerhin Anlass zur Hoffnung gab, hat Ulrich Beck nicht mehr erlebt. Doch der große Optimist hatte einen anderen Joker im Ärmel.

Was er in „Metamorphose“ unternimmt, ist eine Art von dialektischem Salto. Hat er bisher die negativen Folgen positiver Errungenschaften untersucht, geht es ihm nun um die positiven Nebenfolgen negativer Entwicklungen. Die „Anerkennung des globalen Klimarisikos“ treibe die „kosmopolitische Metamorphose“ der Welt voran. Er hoffte auf einen „emanzipatorischen Katastrophismus“, der sich sogar als „Heilmittel für die Pest des Krieges“ erweisen könnte. Es genügt, an die Lage in Aleppo zu denken, an die Bündnisse zwischen Syrien, Russland und Iran, an den neuen Konfliktherd Türkei, an den überall wachsenden Nationalismus, die Gefährdung der Demokratie, das schwankende Europa: Zurzeit kann man diese Hoffnung nur für illusionär halten.

Anders sieht es in Hinsicht auf die Digitalisierung aus. Immerhin steuert die EU auf eine Grundverordnung zum Schutz persönlicher Daten zu. Allmählich erwacht das Bewusstsein, dass man der von Kritikern zärtlich „GAFAM“ genannten amerikanischen Datenkrake (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft) nicht einfach das Feld überlassen darf. Die Tatsache, dass die digitale Infrastruktur in den privatwirtschaftlichen Händen weniger amerikanischer Konzerne liegt, kann man durchaus für noch alarmierender halten als den von Snowden aufgedeckten NSA-Skandal. Es wäre ein Segen, wenn die bedenkenlos vor sich hin konsumierenden User eine Vorstellung von den „digitalen Freiheitsrisiken“ entwickeln würden, die sie täglich eingehen.

Kein makelloses Buch, aber es erfasst einen Umbruch

Ulrich Beck, der in München und an der Londoner School of Economics lehrte, schrieb das Manuskript auf Englisch. Es war noch nicht überarbeitet, als er siebzigjährig starb. Seine Frau, die Soziologin und Psychologin Elisabeth Beck-Gernsheim, mit der er mehrere Bücher schrieb, brachte es in eine publizierbare Form. Dass die Originalausgabe 2016 auf Englisch erschien und das Buch nun in deutscher Übersetzung vorliegt, passt zum kosmopolitischen Geist des Soziologen.

„Die Metamorphose der Welt“ ist gewiss kein makelloses Buch. Aber es erfasst eine Epoche im Umbruch. Und es bietet zahlreiche Anschlussmöglichkeiten. Seinen optimistischen Grundzug darf man als Ulrich Becks Vermächtnis verstehen. Die Idee, die „Vereinten Weltstädte“ der sogenannten C40 Cities, zu denen auch Berlin gehört, könnten die klimapolitischen Ziele besser umsetzen als die Vereinten Nationen, sollte für den neuen Senat ein Ansporn sein.

Meike Feßmann

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