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Viele virtuelle Angebote werden auch nach der Pandemie bestehen bleiben. 

© Markus Appenzeller & Ildar Biganyakov

Virtueller Stadtraum: Die Stadt nach Corona

Im Gegensatz zu Terroranschlägen und Kriegen zerstört ein Virus keine Gebäude und Straßen. Es verändert den urbanen Raum auf andere Weise: Er wird Mensch und Natur zurückgegeben.

Dass Stadtplaner schnell die möglichen Folgen der Covid-19 Pandemie skizzieren, überrascht nicht. Von einer Wiedergeburt der Broadacre City eines Frank Lloyd Wright über Szenarien aus Katastrophendrehbüchern Hollywoods bis hin zur Aufgabe der Stadt zugunsten dörflicher Strukturen ist alles dabei. 

Ihre Annahmen gründen sich auf Anpassungen städtischer Strukturen nach Epidemien in der Vergangenheit. Pest, Cholera, die Spanische Grippe führten alle zu Stadterneuerung. Die „Hardware“ der Stadt wurde angepackt. Kanalisation wurde angelegt, Stadtblöcke vergrößert und der Überbelegung wurde mit Massenwohnungsbauprogrammen begegnet.

Keines der Szenarien beschreibt nur annähernd was wir erleben werden. Zur Sicherung von Mindestabständen wurden bereits Maßnahmen ergriffen. Viele werden wieder verschwinden, auch als Zeichen, dass die Krise überstanden ist. Andere Veränderungen werden bestehen bleiben, weil sie sich als besser herausgestellt haben.

Allerdings standen diese meist schon auf der Agenda und werden nur schneller umgesetzt. Insbesondere Radfahrer und Fußgänger bekommen in London, Brüssel, Paris und anderswo mehr Raum zu Lasten der Flächen für Autos.

Um die neuen Veränderungen wahrnehmen zu können, muss man die Entwicklungsstufen, in denen sich Stadt in den vergangenen 150 Jahren verändert hat, verstehen. Städte waren zunächst verdichtete Dörfer, die Sicherheit und wirtschaftliche Anreize boten. Eine Stadt und ihr Reichtum wurden an ihrem physischen Erscheinungsbild gemessen.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich das grundlegend verändert. Industrialisierung und die gewachsene Größe macht sie zu dynamischen und komplexen Gebilden, die auch weiterentwickelte Systeme zu ihrer Beherrschung notwendig machen. 

Sozialgesetze wurden beschlossen, die Krankenversorgung neu geregelt und der Nahverkehr und andere infrastrukturelle Systeme an die gestiegene Nachfrage angepasst. Handel fand nun an internationalen Börsen statt und Städte gaben sich neue Verwaltungsstrukturen.

Heute bilden diese Errungenschaften das „Betriebssystem der Stadt“, das Prozesse steuert. Mehr als 100 Jahre lang hielten die öffentlichen Verwaltungen die Administratorenrechte in ihren Händen. Diese waren in einem solchen, geschlossenen System einfach abzusichern. 

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Damit gediehen die Städte prächtig. Stadtregionen entwickelten sich und die internationalen Beziehungen zwischen Städten wurden zu Hauptantriebsfedern für die globale wirtschaftliche Entwicklung.

In den letzten Jahren werden geschlossene städtische „Betriebssysteme“ ersetzt durch etwas Neues. Mit dem Erfolg von mobilem Internet, von Handys mit verschiedenen Sensoren und dem Erfolg sozialer Netzwerke tauchten neue Akteure auf. 

Sie beschränken sich nicht auf eine bestimmte Stadt und deren lokales Betriebssystem. Google Maps zeigt uns überall den Weg, wo immer wir einen Flughafen verlassen transportiert uns Uber, Deliveroo liefert uns Essen und Amazon füllt unsere Wohnungen mit Dingen aus der ganzen Welt.

Diese „Changemaker“ haben einen enormen Einfluss darauf, wie wir in Städten leben: Einzelhandel, Dienstleitungen, Verkehr, Gastronomie und Tourismus sind davon betroffen. Manchmal geraten alte und neue Systeme deshalb in Konflikt. 

Konzerne wurden virtuelle Unternehmen

So steht Airbnb im Fadenkreuz wegen der Vermietung an Touristen zu Lasten der lokalen Bevölkerung. 

Im Vergleich zum Umfang der Veränderungen, die all diese Unternehmen zusammen erreicht haben, erscheinen diese Probleme eher klein und die aktuelle Pandemie heizt ihr Wachstum weiter an.

Weltweit veränderten sich im Angesicht der Pandemie Gewohnheiten innerhalb weniger Tage. Ganze Konzerne wurden virtuelle Unternehmen, da ihre Mitarbeiter zu Hause bleiben mussten. Jetzt zoomen, teamen oder skypen sie. Das Internet wurde zum Erfüller aller Bedürfnisse: Arbeiten, Kommunizieren, Lernen – alles wurde virtuell.

Viele Firmen entwickelten innerhalb kürzester Zeit Online- oder Selbstbedienungsangebote: Lebensmittel? Die russische Supermarktkette Vkusvill eröffnete Mini-Supermärkte in der Form von Automaten in den Foyers von Wohngebäuden, sodass die Kunden ihr Haus nicht zu verlassen brauchen. 

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Yoga? Core Power Yoga Studios bietet seine Kurse online an. Medizinische Hilfe? Die Rotterdamer Erasmus Universität bietet psychologische Beratung online an und viele niederländische Hausarztpraxen und Physiotherapeuten tun es ihr gleich.

Wenn man abends „ausgehen“ will, dann bietet TAXX, eine Disco in Shanghai, Cloud Clubbing. Ein Haus kaufen? Das Maklerbüro Van Wensen im niederländischen Klundert offeriert virtuelle Besichtigungen und Hauskäufe. 

Sogar abgelegene Orte zu besuchen geht: Das Ngala Naturreservat in Kenia bietet „Sofasafaris“, bei denen man via Livestream die „Großen Fünf“ vom heimischen Fernsehsessel aus erleben kann.

Viele dieser neuen Angebote werden unter anderem dank Kostenersparnis, viel größerer Reichweite, oder geringerer Investitionen in physische Infrastruktur bestehen bleiben. Schon heute haben Firmen angekündigt, dass sie bleibend anders werden. 

Leerstehende Büros, mehr Wohnraum, mehr Lieferdienste

Twitter überlässt es seinen Angestellten zu entscheiden, ob sie wieder an ihren Arbeitsplatz kommen wollen, oder zu Hause arbeiten. 

PiK, einer der größten Projektentwickler Russlands, will seine Büros überhaupt nicht wiedereröffnen und als virtuelles Unternehmen weitermachen. Die Universität von Cambridge teilt mit, dass die Vorlesungen des kommenden Jahres online stattfinden.

Was bedeutet das für unsere Städte? Kurzfristig werden einige Läden und Einkaufszentren schließen und natürlich wird die Frage entstehen, wie man den öffentlichen Raum lebendig halten kann. Büros werden leer stehen und möglicherweise in Wohnraum umgewandelt. Wir werden mehr Raum für Lieferdienste brauchen, aber der Flächenbedarf wird durch bessere Logistik begrenzt sein.

Die große Veränderung nach Covid-19 wird der Durchbruch der „Stadt als Software“ sein. Nach der Stadt als physischem Raum, nach dem Entstehen eines Betriebssystems für die Stadt erleben wir nun die nächste Entwicklungsstufe: virtueller Stadtraum.

Beginn des „Soft Urbanism“

Man kann sich fragen, was diesen Raum urban macht. Die gleiche Dynamik, die unseren physischen Raum städtisch gemacht hat, ist hier auch am Werk: eine hohe Dichte von Nutzern und sozio- ökonomischer Aktivität formen zusammen eine kritische Masse. Wir erleben gerade den Beginn eines „Soft Urbanism“ – eines weichen Urbanismus. 

Der harte Städtebau brauchte lange, um sich zu entwickeln. Die Evolution des weichen Urbanismus wird gezwungenermaßen viel schneller sein. Unsere Mittel, diesen Raum zu nutzen sind noch recht begrenzt. 

Handys und Bildschirme werden durch 3D Technologien, bessere Sensoren und Mensch-Maschine-Interfaces ersetzt werden. Damit werden auch die Möglichkeiten des virtuellen Stadtraumes viel größer.

Im Denken der meisten Stadtplaner kommt dieser Soft Urbanism nicht vor. Das hängt damit zusammen, dass virtueller Raum andere Werkzeuge erfordert, um ihn gestalten zu können. Man braucht kein Lineal, Skizzenpapier und Buntstifte, sondern Programmierkenntnisse, Algorithmen und IT-Wissen.

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Der weiche Raum des Soft Urbanism bietet neue Möglichkeiten für den physischen Raum. Viele funktionale Erfordernisse werden durch die Virtualisierung wegfallen, Raum für Neues entsteht: Schönheit, Menschen treffen und sich im Freien erholen kann eine wichtigere Rolle spielen. 

Wir haben auch die Chance, Raum an die Natur zurückzugeben. Und zum Stichwort Natur: Innerhalb kürzester Zeit haben Tiere sich den nicht mehr durch Menschen besetzten Raum zurückerobert. Lautlos, sanft, so wie die neue städtische Realität relativ reibungslos unseren Alltag erreicht hat.

Vielleicht lagen Le Corbusier und seine Jünger nicht falsch, als sie die Verbindung von Stadt und Landschaft zu einer ihrer Maximen machten – wenngleich unsere zukünftige Realität völlig anders aussehen wird, als die Modernisten sie sich damals vorstellten.
[Der Autor ist Stadtplaner und Architekt.]

Markus Appenzeller

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