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Volksküchengründerin und Rebellin Lina Morgenstern: Wo sie Not sah, schritt sie zur Tat
Mit 18 gründete sie ihren ersten Verein: die Berlinerin Lina Morgenstern wird wiederentdeckt. Ein Spaziergang und eine Biografie zeigen das Leben einer außergewöhnlichen Frau.
Stand:
Café Lina! So hieß das Café im Jüdischen Museum während der Corona-Zeit. Denn Betreiberin Birgitt Claus fand: Irgendwie muss doch an die außergewöhnliche Frau erinnert werden, die im Berlin des späten 19. Jahrhunderts fast jeder kannte, die Gründerin der Volksküchen, Bestsellerautorin, Verlegerin und Frauenrechtlerin Lina Morgenstern (1830-1909).
Im Museum selbst fand sich kein Hinweis auf sie, kein Objekt erinnert dort an die mutige jüdische Sozialaktivistin, die überall zur Tat schritt, wo sie Not und Ungerechtigkeit sah.
Also benannte Birgitt Claus das von ihr geführte Café nach Lina Morgenstern und begab sich auf Spurensuche. Ein Text der Lyrikerin Dagmar Nick in dem Buch „Vergessene Briefe an unvergessene Frauen“ (1990) hatte sie vor Jahren auf Lina Morgenstern aufmerksam gemacht.

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Eine Biografie wie diese im konservativen 19. Jahrhundert sticht heraus: Mit 18 Jahren gründete die Breslauer Kaufmannstochter ihren ersten Verein, um armen Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Gegen den Willen ihrer Eltern heiratete sie den wenig geschäftstüchtigen Theodor, dessen Modegeschäft pleite ging. In Berlin baute sie über ein Dutzend Volksküchen auf, in denen bedürftige Berliner für wenig Geld gesund essen konnten.
Ihre Familie hielt sie über Wasser, indem sie Bücher schrieb; die „Hausfrauen-Zeitung“, die sie verlegte, wurde nur von Frauen geschrieben, gedruckt, vertrieben. Auf Friedens- und Frauenkongressen brillierte sie als Rednerin: Das alles faszinierte Birgitt Claus, die selbst das Unternehmen eßkultur gegründet hat und literarisch-kulinarische Reisen und Veranstaltungen anbietet.

© Birgitt Claus
„Als ich erfuhr, dass Dagmar Nick mit Lina Morgenstern verwandt ist und dass sie in München lebt, habe ich sie angerufen“, erzählt Claus. Und tatsächlich: Die damals 95-jährige Nick empfing sie in ihrer Wohnung und erzählte ihr alles, was sie über die Schwester ihrer Großmutter wusste.
Unter anderem, dass in ihrer Familie gerne gesagt wurde „hier sieht’s ja aus wie bei Lina Morgenstern“, wenn in einem Zimmer Unordnung herrschte. „Denn Lina konnte neben ihren fünf Kindern und ihren vielen Aktivitäten natürlich nicht auch noch Ordnung in der Wohnung halten.“

© Birgitt Claus
Dagmar Nick, heute 99 Jahre alt, übergab Birgitt Claus auch eine sehr konkrete Erinnerung: einen silbernen Suppenlöffel aus dem Familienerbe, mit den eingravierten Initialen Lina Morgensterns. Das passt besonders gut, denn Morgenstern wurde in Berlin „Suppen-Lina“ genannt.
Zeitweise gab es 17 Volksküchen in Berlin, in denen unter anderem Eintöpfe gereicht wurden, vor allem in Mitte, Kreuzberg und Wedding. Sie wurden sogar im Baedeker erwähnt! Auf regelmäßigen Spaziergängen zeigt Birgitt Claus seitdem einige Adressen der ehemaligen Essensausgaben und andere Lebensorte von Lina Morgenstern.
Monatelang im Bahnhof geschlafen
Einer, der ihre Begeisterung teilt, ist der Autor Gerhard Rekel. Rekel hat Drehbücher, Romane und im Jahr 2022 die Biografie „Monsieur Orient-Express“ veröffentlicht. „Dass es über diese Frau so wenig Literatur gab, hat mich erstaunt“, erzählt der gebürtige Österreicher. Also machte er sich ans Werk, besuchte Archive, trug Texte von und über Lina Morgenstern zusammen.
Ihn beeindruckt vor allem der Mut und die Hartnäckigkeit von Lina, die sich nicht zu schade war, monatelang die Verpflegung der aus dem Krieg 1870/71 heimkehrenden Soldaten zu organisieren und dafür monatelang im Ostbahnhof schlief. „Während die Politiker mit großen Gesten den Sieg über Frankreich feierten, überließen sie die verwundeten Soldaten ihrem Schicksal. Lina dagegen packte an und rettete Leben, auch die von französischen Soldaten.“
In seiner gut zu lesenden Biografie arbeitet Rekel die Stationen und Motive ihres Lebens heraus: das Verhältnis zum Ehemann Theodor, ihre Anfänge in Berlin als Gründerin von Kindergärten und Autorin, der preußisch-österreichische Krieg, der zum Wendepunkt wurde.
„Das Kriegsjahr 1866 mit seinem drohenden Elend“, so schrieb Morgenstern rückblickend, „brachte mich auf den Gedanken, eine große Koch-Anstalt nicht als Almosen, sondern als soziale Wohltat zu gründen.“ Beharrlich gewann sie prominente Fürsprecher wie Rudolf Virchow und Werner Siemens, bis ein Spendenaufruf in der Vossischen Zeitung veröffentlicht wurde und sie zusammen mit Mitstreiterinnen loslegen konnte. Das Konzept der Volksküchen verbreitete sich in den Jahrzehnten darauf weit über Berlin hinaus.
Viele weitere Initiativen und Vereine sollten folgen, so dass die Neue Presse aus Wien zu ihrem 70. Geburtstag schrieb: „Unter Millionen Frauen gibt es kaum zehn, die (…) so viel Gutes geschafft, so bahnbrechend gewirkt haben wie die trotz ihrer siebzig Jahre noch in voller Tätigkeit stehende Jubilarin.“
Lina Morgensterns politisches Engagement in der Frauen- und Friedensbewegung, ihr Verhältnis zum Judentum, ihre privaten Schicksalsschläge: All das lässt sich in Rekels Biografie nun wunderbar nachlesen. Begraben ist Lina Morgenstern auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee. Man wünscht sie sich lebendig: Sie hätte viel zu tun.
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