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Junge Mastschweine in einem Stall in einem Betrieb in Mecklenburg-Vorpommern
© picture alliance / Jens Büttner/

"Tierreich" von Jean-Baptiste Del Amos: Vom Aufbegehren der Eingeweide

Von Schweinen leben: Der französische Schriftsteller Jean-Baptiste Del Amos hat mit "Tierreich" einen großartig-hyperrealistischen Roman geschrieben.

Ein Roman wie eine Güllegrube! Das wäre ein kraftvoller, aber vermutlich nicht sehr zugkräftiger Werbespruch. Aber warum eigentlich nicht? Krimis und Thriller werden schließlich auch mit unappetitlich bluttriefenden Slogans angepriesen. Neulich hieß es über so ein Machwerk, die Sätze würden mit „der Wucht einer Pumpgun“ treffen oder gar wie „eine Kugel durch den Leser hindurchfegen“. Nun also: Der Leser von „Tierreich“ fühlt sich, als würde er mit der Mistgabel aufgespießt. Oder vom Vier-Meter-Zuchteber „La Bête“ hinterrücks besprungen.

Der vierte Roman des Schriftstellers Jean-Baptiste Del Amo, 1981 geboren in Toulouse, ist einer der besten, der in den letzten Jahren in Frankreich geschrieben wurde. Er verdient mehr Aufmerksamkeit als die angesagte Dünnbrettprosa eines Édouard Louis. Es ist ein düsteres Epos des französischen Landlebens, das schafft, was nur beste Literatur kann: Scheußlichkeit in ein großes Leseerlebnis zu verwandeln. „Tierreich“ (Aus dem Französischen von Karin Uttendörfer, Matthes und Seitz, Berlin 2019. 440 Seiten, 26 €).erzählt in vier Teilen von einer Familie, die sich aus dem kargen, bedrückend armseligen Bauernleben um 1900 hocharbeitet zum mäßigen, einer Hölle von Gestank, Dreck und Schufterei abgewonnenen Wohlstand eines industriellen Schweinemastbetriebs. Das Ende auch dieses Familienromans heißt jedoch Verfall und Untergang. Er kommt in den achtziger Jahren, mit einem Mahlstrom von Selbsthass und Krankheit, Wahn und Fäkalien.

Die junge Éléonore ist die Hauptfigur der ersten Hälfte. Für die Lieblosigkeit des Milieus steht ihre Mutter, die bloß „die Erzeugerin“ genannt wird. Sie schlägt auf die Hunde ein, wenn sie sich paaren, bis ihnen, grotesk ineinander verhakt, die Lust vergeht. Umgeben von Viechern, die sich unaufhörlich bespringen, ist die Sexualität dennoch verpönt bei der von einem säuerlichen Katholizismus geprägten Familie im fiktiven Dorf Puy-Larroque, irgendwo in der Gascogne.

Der Roman lebt von seinem kreatürlichen Hyperrealismus

Es gibt allerdings intensive Momente der Naturverbundenheit fernab von dem kleinen, schäbigen Bauernhof, auf dem sich Éléonores Vater zu Tode schuftet. Etwa wenn das Mädchen die beiden Schweine des Hofes in den Eichenwald führt, wo sie sich auf einen Baumstumpf setzt, den Geruch der Pilze und der modernden Pflanzen einsaugt und den Tieren zusieht, wie sie sich an Eicheln und Kastanien laben und mit den Rüsseln den Boden nach Schnecken durchwühlen. „Sie liebt die Ruhe des Eichenwaldes, das Gefühl ihrer tiefen Einsamkeit, die Gegenwart der Schweine, ihr zufriedenes Grunzen, die Schreie und das Flügelrascheln unsichtbarer Vögel.“ Der Roman trägt seinen Titel sehr zu Recht; mit seinem kreatürlichen Hyperrealismus fasst er alles scharf ins Auge, was da kreucht und fleucht und hoppelt

Nicht gleich zufriedenes Grunzen, aber ein kleines Glück scheint das Leben auch für Éléonore bereitzuhalten, als ein junger Verwandter auf den Hof kommt, um die Arbeitskraft des qualvoll sterbenden Vaters zu ersetzen. Eine spröde Liebesgeschichte deutet sich an. Doch vor die Ehe hat das 20. Jahrhundert den Weltkrieg gesetzt. Marcel wird eingezogen. Das große Schlachten beginnt, und die Blut- und Fleischmühle, die den jungen Männern bereitet ist, erscheint in den drastischen Schilderungen des Romans als Variation der Schlachthöfe, in denen die Tiere verarbeitet werden. Der Erste Weltkrieg, der für die Franzosen viel opferreicher war als der Zweite mit seinen weitgehend auserzählten Narrativen der Kollaboration und Résistance, rückt in der französischen Literatur als Ur-Trauma des Jahrhunderts neuerdings wieder stärker in den Fokus; dieser Roman ist ein Beispiel dafür. Und auch bei den Kriegsszenen mischt sich in das Dröhnen der Geschütze das Gebrüll des Viehs.

Manchmal erinnert Del Amos Roman an Josef Winkler

Éléonore wartet vergeblich auf Marcels Rückkehr. Man tröstet sie: er sei vermisst, er sei tot, sie solle sich abfinden. Warum das ein Trost sein könnte, wird deutlich, als er nach Jahren wieder auftaucht – als einer jener Kriegsverstümmelten mit grausig deformiertem und gleichsam kubistisch zusammengeflicktem Gesicht, wie sie der Fotograf Ernst Friedrich in seinem erschütternden Buch „Krieg dem Kriege“ aus dem Jahr 1924 dokumentiert hat. Im Haus werden alle Spiegel verhängt. Für die Liebe kommt Marcel eigentlich nicht mehr infrage; nicht nur, weil sein Anblick das Verlangen erstickt, sondern weil er menschliche Körper kaum noch begehren kann, nachdem er an der Front zu viel von deren Innenleben gesehen hat, in Form blutiger Fleischfetzen und dampfender Eingeweide, die durch die Luft flogen oder sich aus aufgerissenen Bäuchen ergossen. Und dennoch: Éléonore und Marcel heiraten. Ihr Sohn Henri und dessen Nachkommen Serge und Joel sind die Patriarchen der Sippe, die in der zweiten Hälfte des Romans einen industriellen Schweinemastbetrieb während der frühen achtziger Jahre bewirtschaftet.

Hier nun wird die ganze düstere Palette des Anti-Heimat-Romans aufgeboten, wie man sie etwa aus den Büchern von Josef Winkler kennt: kaputte Ehen und Familie als Zwangsanstalt, ruinierte Kindheiten und Homosexualität, Alkoholsucht und Inzest, Bigotterie und Degeneration. Der Roman ist ganz nah bei den in ihre Buchten gepferchten Schweinen, ihrem Gestank und Geschrei, ihrer Fressgier und Panik, aber auch bei den abgearbeiteten Körpern und den zerschlissenen Seelen der Bauern, die Zeit ihres Lebens im Kot waten. Selbst die Gebäude des Hofes werden zerfressen vom beißenden Gülledunst und dem giftigen Strom der Exkremente, dem auf Dauer keine noch so oft nachbetonierte Wand standhält.

Der Schweinemastbetrieb ist ideal für einen Beschreibungskünstler wie Del Amo

Die Tatkraft erlahmt im letzten Sprössling der Familie. Der kleine Jérôme ist eine Art Hanno Buddenbrook, der sich einer allerdings ganz unkünstlerischen Kontemplation ergibt. Der Junge ist stumm und geistesschwach, aber er hat einen siebten Sinn für die Natur und die Tiere, unter denen er sich wohler fühlt als zwischen Menschen: ein wildes Kind, das durch die Landschaft streift und mit offenen Augen träumt. Einer Spur der Freiheit folgt auch der imposante Zuchteber „La Bête“, dem die Flucht aus seinem Stallgefängnis gelingt und der listig genug ist, seinen Verfolgern zu entkommen. Der Verlust dieses Prachtstücks, Krönung jahrelanger Selektion, ist ein Menetekel für den Hof. „La Bête“ gibt sich der Verwildschweinung hin – und hat erstaunlicherweise das letzte Wo.

Der Schweinemastbetrieb bietet eine Idealvorlage für den Beschreibungskünstler Jean-Baptiste Del Amo. Denn hier gibt es enorm viel zu sehen, zu hören, zu riechen. Die Wirklichkeit, wie sie dieser Roman darstellt, ist so krass, dass die Sprache bisweilen expressionistisch steil klingt, obwohl sie bloß genau ist. Dass dieses Sprachkunstwerk sich im Deutschen ebenso intensiv und beklemmend liest wie im Original, verdankt sich der fabelhaften Übersetzung von Katrin Uttendörfer.

Nur einem Roman ist die Darstellung der Umbrüche in der industrialisierten Landwirtschaft des 20. Jahrhunderts in ähnlicher Intensität gelungen: „Blösch“ von Beat Sterchi, einem hierzulande wenig bekannten Meisterwerk der Schweizer Literatur aus dem Jahr 1983. Obwohl er Veganer und in Tierschutzbewegungen aktiv ist, verbietet sich Del Amo wie Beat Sterchi jede Meinungsäußerung, jedes Argumentieren und Agitieren. Seine Wut verwandelt er in literarische Präzision, sein Wissen in Bilder und detailversessene Beschreibung. Dennoch mag es so wirken, als wäre die große Inszenierung des Niedergangs eine literarische Strafaktion: Je exzessiver der Missbrauch der Tiere, desto übler bekommt es den Menschen.

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