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Angela Merkel inspiziert im August 2010 das Atomkraftwerk Lingen. Inzwischen hält die Bundeskanzlerin eine Laufzeitverlängerung der AKW nicht mehr für eine sichere Sache.

© dpa

AKW-Sicherheit: Das Risiko ist mehr als ein Rest

Die Bundesregierung rudert zurück, von den nahenden Wahlterminen verschreckt und von der Realität eingeholt. Nun kann sie nicht mehr leugnen, was sie immer wieder bestritt: Nuklearanlagen sind eine Hochrisikotechnologie

In der CDU muss neu diskutiert werden, weil wir eine neue Lage haben – sagt der Bundesumweltminister vier Tage nach dem furchtbaren Erdbeben und dem Tsunami in Japan, die in den Atomkraftwerken des Landes schwere Schäden anrichteten. Bereits am Samstagabend hatte die Bundeskanzlerin festgestellt, man könne nach den Geschehnissen in Japan nicht so einfach zur Tagesordnung übergehen. Sicherheit habe absoluten Vorrang. Das fand auch die baden-württembergische Umweltministerin und wollte Atomanlagen abschalten, wenn die Sicherheit nicht gewährleistet sei. Der Bundesaußenminister konnte sich schon Montagvormittag einen vorübergehenden Ausstieg aus der Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke vorstellen. Und genau das verkündeten Angela Merkel und Guido Westerwelle dann am Nachmittag. So schnell kann ein Lernprozess sein.

Eine Sicherheitsüberprüfung aller deutschen Nuklearanlagen zur Energieerzeugung soll jetzt Klarheit bringen, ob die Akw weiter laufen können, ob einzelne nachgerüstet oder andere gar stillgelegt werden müssen. Für die ältesten Anlagen, Biblis A oder Neckarwestheim 1 ist das in jedem Fall die Folge, denn sie waren überhaupt nur noch in Betrieb, weil die schwarz-gelbe Koalition im Herbst aus dem Ausstiegsbeschluss der rot-grünen Bundesregierung ausstieg und die Betriebsdauer der Anlagen um im Schnitt zwölf Jahre verlängerte.

Man reibt sich die Augen und fragt sich: Was ist denn da nun eigentlich passiert, das nicht vorhersehbar, sondern völlig außerhalb jeder Berechnung gewesen sein könnte? Gab es noch nie Probleme mit Kühlsystemen? War nicht immer klar, dass Erdbebengebiete nicht der ideale Baugrund für Kernkraftwerke sind? Nein, die Bundesregierung rudert jetzt zurück, von den nahenden Wahlterminen verschreckt und von der Realität eingeholt. Nun kann sie nicht mehr leugnen, was sie immer wieder bestritt: Nuklearanlagen sind eine Hochrisikotechnologie, die sich weder mit menschlichem Versagen noch mit Naturkatastrophen verträgt. Dass jetzt selbst in einem hochentwickelten Industrieland wie Japan Kernkraftwerke außer Kontrolle geraten, habe zum Umdenken geführt, gab die Kanzlerin als Grund für die veränderte Risikobewertung zu erkennen.

Natürlich muss der Mensch mit Risiken leben, das ganze Dasein ist ein einziges Risiko. Vernunftbegabte Wesen sollten aber abwägen, welche Risiken tragbar sind und welche einzugehen unverantwortlich wäre. Die furchtbaren Folgen des Ausfalls einer Kühlanlage bei einem Kernkraftwerk sind kein Restrisiko, mit dem man sich eben abfinden muss, wenn der Strom zuverlässig aus der Steckdose kommen soll, sondern sind systemimmanent und damit eben nicht mehr akzeptabel. Jede technische Anlage erzeugt im Betrieb Wärme, die man durch Kühlung reduzieren kann. Wird die Anlage, wie ein Motor, abgeschaltet, kühlt sie von selbst aus. Fällt die Kühlung aus, geht der Motor kaputt. Das hat in der Regel keine dramatischen Folgen. Bei einem Atomreaktor ist das ganz anders. Er muss nach dem Ziehen der Brennstäbe noch für einen sehr langen Zeitraum gekühlt werden. Ein nicht zu behebender Ausfall der Kühlung führt also zwingend zum GAU, dem größten anzunehmenden Unfall.

Das kann bei uns nicht passieren, wurde die besorgte deutsche Öffentlichkeit bei kritischen Rückfragen immer beruhigt. Auch jetzt heißt es wieder, nur eine Naturkatastrophe ungeahnten Ausmaßes habe die japanischen Kernkraftwerke so gefährden können. Dass in Deutschland die Erde bebt, 1978 auf der Schwäbischen Alp zum Beispiel mit der Stärke von 5,7 auf der Richterskala – ohne Belang? Dass es in Deutschland ebenfalls Kernkraftwerke gibt, deren Kühlsysteme nicht unabhängig geschaltet oder die überhaupt nicht redundant ausgelegt sind? All das hielt die Bundesregierung im Herbst nicht ab, die Laufzeitverlängerung zu beschließen. Es war ein Geschenk an die Energieversorger, ohne Notwendigkeit für die Versorgungssicherheit, sondern reine Klientelpolitik, sonst nichts. Die Denkpause, die sich die Regierung nun verordnet, ist der Beweis, dass sie zuvor eben nicht nachgedacht hat.

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