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Meinung: Friedbert Pflügers Piercing und der Rocker von der FDP

Pascale Hugues, Le Point

Die Straßen Berlins ähneln dieser Tage den Gängen des Louvre. An jedem Baumstamm hängt das Porträt eines Lokalpotentaten, eines kleinen Kiezbarons oder einer einflussreichen Gräfin mit verheißungsvollen Samtaugen. Und zu Füßen dieser Galerie wandelt auf den Bürgersteigen der umworbene Plebs: das Wahlvolk.

Wer auf direktem Wege von Adlershof zum Roseneck fährt, kann mühelos die Kasten identifizieren, die sich das Berliner Territorium teilen. Die Adlershofer Dörpfeldstraße ist eine alte Bastion der Linken. Sie war schon immer tiefrot – selbst, als sie noch Bismarckstraße hieß und in ihren Mietshäusern die spartakistische Revolution wütete. „Erfolgreich fortsetzen!“, steht auf dem Wahlplakat der Linkspartei/PDS. Die für sprachliche Symbolik offenbar wenig empfänglichen Plakatierer haben es direkt vor die bröckelnde Fassade eines heruntergekommenen Hauses gehängt.

Die Dörpfeldstraße hat noch nicht verstanden, dass die Mauer gefallen ist. Sie lebt noch immer im Zeitalter der großen Utopien. Auf einem einsamen Laternenpfahl träumt Manrico Lampe von der „AGFG“ davon, die Welt zu verändern. Ich überlege kurz, was die AGFG wohl in Adlershof zu suchen hat – in Frankreich ist das die Abkürzung einer Organisation, die gegen die weibliche Genitalverstümmelung in Guinea kämpft. Aber Google löst das Rätsel. Wenn Manrico Lampe nicht so ernst und traurig dreinblicken würde, ich gäbe ihm sofort meine Stimme. Er leitet die verheißungsvolle„Allianz für Gesundheit, Frieden und Sozialgerechtigkeit“.

Zwischen der Kneipe „Pferdestall“ und einer Zoohandlung will eine andere Fraktion mit allen Mitteln einen befremdlichen Coup d’état erzwingen: Auf dem Plakat bietet ein Mädel dem Betrachter sein üppiges Dekolleté dar, darunter prangt der Slogan: „Deutsch ist geil! Die Republikaner.“

Wer am Schlesischen Tor vorbeifährt – an der Stelle, wo das Auto immer über diesen kleinen Buckel holpert, der noch immer die Spur der Mauer markiert – wähnt sich sofort in einem anderen Universum. Kreuzberg zelebriert bis heute eine Nostalgie des Widerstands im Geiste der 60er Jahre. Che-Guevara-Porträts hängen aus den Fenstern, wütende Farbstriche auf Mauerfassaden loben die Anarchie. Die FDP, die die Kunst beherrscht, von Kiez zu Kiez chamäleonhaft die Farben zu wechseln, hat begriffen, dass der Prototyp des vertrauenswürdigen Versicherungsvertreters aus Zehlendorf am Kottbusser Tor die Inkarnation des Klassenfeinds ist. Deshalb hat Frank Peters, der örtliche FDP-Kandidat, Haare bis zum Nacken und ein ungebügeltes T-Shirt an. Mit seinem Rocker-Lächeln würde er die Neoliberalen von der Terrasse der „Wiener Conditorei“ am Roseneck verscheuchen wie einen Schwarm Fliegen. „Bürgerrechte stärken!“, sagt Franz Peters in Kreuzberg. Der FDP-Kandidat am Roseneck sagt: „Lebensqualität! Ohne Graffiti, Müll und Hundedreck!“.

In Kreuzberg schafft es sogar Friedbert Pflüger, wie ein Punk auszusehen. Die weiße Plastikklammer, mit der eines seiner Wahlplakate an einem Baumstamm befestigt ist, steckt mitten in der Stirn des CDU-Kandidaten – wie ein subversives Piercing.

Unter den Yorckbrücken hindurch und vorbei am Fehrbelliner Platz erreichen wir schließlich die patrizischeren Gefilde Berlins. Hier, zwischen Ciabatta-Bar und Tennisplatz, beginnt das Großherzogtum des Peter L. H. Schwenkow. Perfekt gescheiteltes Chorknabenhaar, ein offenes Hemd ohne Krawatte, aus der Brusttasche quillt locker ein seidenes Einstecktuch. Peter L. H. Schwenkow kultiviert den sportlich-legeren Chic der britischen Oberklasse. In Ermangelung eines Titels schmückt er seinen Namen mit den Initialen seiner Zweitvornamen. Das verleiht ihm die effiziente Anmutung eines Geschäftsmannes amerikanischer Prägung und täuscht einen imposanten Stammbaum vor, der gut ankommt in diesem auf Etikette versessenen Stadtteil. Die blauen und effizienten Augen des Peter L. H. Schwenkow versprechen den Zehlendorfern alles, was sie hören wollen: „Klar. Wahr. Direkt.“

Am Ende meiner Reise bekomme ich ein bisschen Angst um Berlin. Berlin ohne Graffiti und Hundedreck? Berlin deutsch und geil? Berlin erfolgreich fortgesetzt? Berlin klar und wahr? Aber all das sind ja nur elektorale Träume. Am 18. September werden die Prätendenten auf den Berliner Thron mit hängenden Köpfen die städtischen Straßen säumen – da helfen ihnen weder Herkunft noch visionäre Ideen.

Aus dem Französischen übersetzt von Jens Mühling.

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