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Meinung: Klarer Kompass, neue Sicht

Manche nennen die Behörde schon das „Aufarbeitungskombinat“. Nun wird Roland Jahn die Stasi-Akten verwalten. Das lässt hoffen

Er wurde verhaftet, nur weil er frei dachte und mutig redete, das Regime setzte ihn unter Druck, aber er gab nicht nach, bis ihn seine Häscher knebelten und ihn schließlich aus dem Land schmissen wie ein Stück Frachtgut. Roland Jahn, ein unbeugsamer Oppositioneller aus der DDR, hat danach vom Westen aus gegen den totalitären Staat gekämpft – sechs lange Jahre, bis endlich das System fiel und mit ihm die Mauer.

So kann man die Geschichte erzählen. Oder anders.

In Jena schien die Sonne an diesem Dienstag im Juni 1983. Mit ein paar Mädels bummelte er durch die Stadt, sie aßen Eis. Am Nachmittag hatte Roland Jahn einen Termin beim Wohnungsamt, unversehens wurde er dort festgesetzt, zur Abteilung Inneres überstellt, wo ein Staatsgenosse dem renitenten jungen Mann ein Schreiben gab: „Hier ist Ihre Urkunde zur Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR.“ Er verstand das nicht, auf dem Weg nach Hause – er sollte seine Sachen holen – entkam er, flüchtete in die Wohnung einer Freundin, die die Männer aufbrachen. Sie legten ihm Knebelketten an, brachten ihn zum Bahnhof, um ihn in einem Schlafwagenabteil einzuschließen; am Ende des letzten Waggons rollte er gegen seinen Willen in den Westen.

„29 Jahre wohnst Du am selben Ort, hast viel Ärger gehabt und gemacht, aber dass Du plötzlich weg sollst, völlig unvorbereitet, das kapierst Du in dem Moment gar nicht richtig. Dann kommst Du nach ein paar Kilometern an und bist auf einem anderen Planeten. Du siehst all die Autos, diese Läden und Schaufenster und denkst Dir: Halt, da stimmt doch was nicht, was willst Du eigentlich hier? Bei mir war es ein Gefühl der Einsamkeit und Leere.“ Sechs lange Jahre sah er seine Eltern nicht. Als er bei einem Athen-Urlaub auf der Akropolis stand und auf die von Bergen eingerahmte Stadt hinabblickte, musste er an Jena denken. Die Heimat, die sie ihm genommen hatten.

So hat Jahn von seiner Ausbürgerung berichtet, gleich nach der Ankunft in der Bundesrepublik. Er schilderte die Zweifel eines jungen Mannes, Verletzungen und die innere Zerrissenheit in einem Staat, in dem die Macht auf alles drückte, auch auf die Gefühle. Die gleiche Geschichte neu erzählen, anders als so oft gehört – es geht.

Roland Jahn wird bald überall berichten können, was geblieben ist vom doppelten Leben im geteilten Deutschland. Ab März soll er als Bundesbeauftragter für die Stasi-Akten das einstmals Geheime ans Licht bringen. Und aktuelle Geschichte erlebbar machen. Ob Jahn, der vom Bundestag einen breiten Vertrauensvorschuss bekommen hat, dabei tatsächlich Gehör findet in einem Land, das weiterhin leidenschaftlich Nazi- und RAF-Debatten führt, beim Thema DDR aber schon mal müde abwinkt? Das liegt nicht nur an ihm, sondern auch am Eigenmut der Gesellschaft und am Eigenleben seiner Behörde. Aber vorgenommen hat er sich das schon: Durch ein neues Erzählen Menschen zu gewinnen für das Vergangene, das in jede Gegenwart eingraviert ist.

Es wäre nicht weniger als ein Paradigmenwechsel in der offiziellen DDR-Aufarbeitung. Erzählen von Alltagsgeschichten, wobei man die Grenzen der Nischen erkennt. Offene Gespräche zwischen Tätern und Opfern. Und vor allem: das Gewinnen der Mitläufer, von denen eine Diktatur stets profitiert, das Neugierigmachen der nach wie vor stummen Mehrheit auf ihre eigene Familiengeschichte. So würde ein neuer Ton einziehen, der im alten Westen frisches Interesse weckt und im neuen Osten trotzdem nichts beschönigt. Nebenbei könnte die Behörde, die nicht weniger als 1800 Leute beschäftigt, ihr Verfolgerimage loswerden, das sie in jahrelangen Gysi- und Stolpe- Debatten angehängt bekam.

Mit den Namen hat die Behörde auch immer die Tonart gewechselt. Erst Joachim Gauck, der nach der Einheit wortgewaltig gegen das schnelle Vergessen ankämpfte, der Täter und Opfer klar benannte. Dann Marianne Birthler, die hartleibig gegen die schnelle Abwicklung der Aufarbeitung ankämpfte, die in den Akten auch Dokumente des Mutes entdeckte, manchem ihrer Mitarbeiter aber den Mut nahm. Nun Roland Jahn, der in seinen bisherigen öffentlichen Äußerungen gegen nichts anzukämpfen scheint, sondern die Geschichte in Geschichten verpackt, um Menschen die Augen zu öffnen? Kann man damit etwas bewegen?

Ein Gespräch mit Roland Jahn. „Die junge Generation lässt sich nicht mit dem moralischen Zeigefinger gewinnen“, sagt der 57-Jährige. „Die Aufklärung über eine Diktatur soll eine Lebenshilfe sein für die heutige Zeit. Wir müssen den Menschen das Gefühl geben: Das hat etwas mit uns zu tun.“ Als kürzlich auf dem Alexanderplatz eine interaktive Freiluftausstellung an den Umbruch 1989 erinnerte, sah er dort nachts Jugendliche stehen, die sich Videos von den Demonstrationen anschauten. Jetzt gehen Millionen Menschen in der arabischen Welt für den Wandel auf die Straße. Mitten im Leben also kann das Nachdenken einsetzen über das eigene Verhalten, über die Frage: Was würde ich in so einem engen Staat tun und was lieber nicht? Jahn sagt: „Wir müssen rein in die Gesellschaft und nicht warten, bis sie zu uns kommt.“

Kritik an der bisherigen Ausrichtung der Behörde will Jahn natürlich nicht äußern. Aber an der Ausstellung auf dem Alexanderplatz hatte sich das Haus nicht beteiligt.

Eine neue Aufklärung über die DDR würde beim Erleben der Menschen ansetzen. Sie dürfte dann von enttäuschten Hoffnungen über die deutsche Einheit handeln; Enttäuschungen, die es vielen so schwer macht, das SED-System, das sie selbst abgeschafft haben, heute als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Sie müsste auch die jungen Wossis einbeziehen, die wegen anhaltender Arbeitslosig- und Traurigkeit ihre Heimat verlassen haben und jetzt an den Ossi-Stammtischen in Frankfurt am Main und Stuttgart sitzen und sich fragen, ob sie ihre Eltern verraten haben. Sie müsste sich an die Kleingartentische jener Älteren wagen, die den Niedergang vertrauter Strukturen erlebt haben und die beim Thema DDR zunächst an ihre Sommerurlaube in Bulgarien denken und erst danach an fehlende Reise- und Redefreiheit. Sie müsste bei den Galaabenden der Nostalgieindustrie die bequemen Nischen ausfegen. Und die Linkspartei von ausgetrampelten Kommunismus-Pfaden auf neue Zugänge zu ihrer Geschichte als SED-Nachfolger stoßen. Nur dann würde sich in der ostdeutschen Öffentlichkeit, die bei Aufregerthemen noch als eigenständige Öffentlichkeit funktioniert, etwas ändern. Ein neues Selbstverständnis könnte wachsen, sogar neues Selbstvertrauen. Das wäre sichtbar und spürbar im ganzen Land.

Freiheit muss man sich nehmen. So lautete das Motto des friedens- und freiheitsbewegten Jahn in der DDR. Als Chefaufklärer müsste er sich nun eine neue Freiheit nehmen: die Milieus der stillen Nostalgie aufzubrechen.

Natürlich wird solch ein neuer Anlauf weh tun. Und er wird der zuweilen schwerfälligen Behörde, die jährlich 100 Millionen Euro verschlingt, viel Kraft abverlangen. Aber so könnte die Stille aufgebrochen werden, die über dem Osten Deutschlands liegt und sich darin ausdrückt, dass viele Schüler weder von ihren Eltern noch von ihren Lehrern über die gerade erst geschehene Revolution in der eigenen Stadt aufgeklärt werden. Mehr Heimatkunde täte not. Denn noch leben die Mutigen von damals. Und die Täter. Und die Schweiger.

Ein Zurückweichen hinter alte Standards darf eine lebensnahe Aufklärung nicht mit sich bringen, kein nachträgliches Weichmachen harter DDR-Strukturen. „Das Reden muss konkret sein“, sagt Jahn. „Täter müssen beim Namen genannt, eine Auseinandersetzung provoziert werden. Aber es muss die Bereitschaft geben zu einer differenzierten Bewertung.“ Jahn hat nicht vergessen, dass er mal Mitglied der FDJ war und später seinen Grundwehrdienst bei der DDR-Bereitschaftspolizei ableistete, „auch ich war eine Zeitlang ein Rädchen im System“. Wie kam es dazu? Diese Frage wird ungern gestellt, sich selbst und seinen Nächsten. Dabei tut Schweigen mehr weh als Reden.

„Wenn Täter sich zu ihrer Verantwortung bekennen, ist die Chance höher, dass die Opfer ihnen verzeihen“, meint Jahn. „Den Zeitpunkt des Verzeihens müssen aber die Opfer bestimmen.“ Zum Dialog allerdings würde das Eingeständnis gehören, im Leben Fehler gemacht, sich Mut erspart zu haben. Ich habe doch niemandem geschadet – diese Ausrede, die Stasi-Spitzel sowieso nie belegen können, würde nicht mehr funktionieren. Dafür müsste Jahns Behörde vielerorts Denkanstöße geben, Stolpersteine setzen. „Ich bin ein Fan der regionalen Aufarbeitung“, sagt Jahn. Aus seiner Oppositionszeit in Jena weiß er: „Die Stasi war nicht nur Mielkes Zentrale in Berlin, die Arme des Drachens waren die Kreisdienststellen.“

Für die Arbeit der Behörde würde dieser Ansatz nicht weniger als eine Revolution bedeuten. Bisher hatte sie sich auf drei Arbeitsfelder konzentriert: die Akteneinsicht der Betroffenen, die wie ein permanentes Plebiszit für die Erhaltung des Hauses wirkt. Die Überprüfung von Staatsdienern und Amtsträgern, die nun auf den Bundestag ausgeweitet werden soll. Das Wiederherstellen und Aufbereiten der Akten für Bildung und Forschung, bei der sich die Behörde stärker als bisher als Dienstleister verstehen müsste. Diese Aufgaben klingen eher rückwärtsgewandt, lassen die Behörde wie ein Auslaufmodell erscheinen. Nach dem derzeitigen Willen vieler Parlamentarier soll deshalb in zehn Jahren Schluss sein. Jahn muss dem Erbe der Revolution neues Leben einhauchen, wenn er ein Erbe der Behörde erschaffen will. Und er muss vor allem seinem Haus, das manche schon böse als „Aufarbeitungskombinat“ geißeln, einen neuen Sinn geben.

Leicht wird das nicht. „Es ist ein bisschen wie bei Obama: Nach dieser überwältigenden Wahl gibt es riesige Erwartungen, die sich gar nicht alle erfüllen lassen“, sagt ein Kenner der Materie, der nicht namentlich genannt werden möchte. Niemand aus der DDR-Aufarbeitungsszene will Jahn vor dem Start öffentlich angehen. Aber viele Erwartungen laufen sich zuwider: Manche erhoffen sich eine schnelle Überführung der Akten ins Bundesarchiv, andere wollen, dass die Behörde über 2019 hinaus existiert. Die einen plädieren für eine konzentriertere Erschließung der Akten, die anderen für ein erweitertes Bildungsangebot. Enttäuschungen sind da programmiert. Es könnte also sein, dass die neue Aufklärung daran scheitert, dass sich die Behörde zunächst über sich selbst aufklären muss. Hinzu kommen brisante Personalien: Behördendirektor Hans Altendorf ist umstritten, weil seine Vergangenheit als linksextremer Politaktivist erst aufgedeckt werden musste – und das in einem Haus, dessen Thema der Umgang mit Biografien ist. Zudem arbeiten noch knapp 50 ehemalige Stasi-Angestellte bei der Behörde – ein Umstand, über den Jahn sich schon einmal ebenso erregt hat wie viele seiner Freunde aus der früheren Opposition.

Nicht nur Hubertus Knabe, Gedenkstättenleiter im ehemaligen Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, sieht Jahn vor einer „schwierigen Aufgabe, für die man Organisationsgeschick und einen klaren Kompass benötigt“. Sachthematisch ist gerade mal die Hälfte der 111 Aktenkilometer erschlossen, personenbezogen immerhin 90 Prozent. Zudem muss die langfristige Überführung ins Bundesarchiv geregelt werden, ohne offene Akten wieder zu verschließen. In diesen heiklen Punkten und beim Lobbykampf im politischen Berlin nützt Jahn seine Biografie allein nicht viel. Höchstens seine Erfahrung als Journalist bei der Behörde ARD, wie er selbst kürzlich vor der Unionsfraktion scherzte.

Gelingt dem abgeschobenen Bürgerrechtler und engagierten Rechercheur bei der Aufklärung der DDR-Geschichte im neuen Job ein Paradigmenwechsel? Das hängt auch vom Eigenleben der Behörde ab und vom Eigenmut der Gesellschaft. An Entschlossenheit hat es Roland Jahn noch nie gefehlt. Als er seinen alten Stasi-Vernehmer wiedertraf, fragte der: „Jetzt willst du wohl Rache?“ Jahns Antwort: „Nein, Gerechtigkeit.“

Die DDR über das Erzählen lebendig zu machen und beim gegenseitigen Verstehen trotzdem präzise zu bleiben – das könnte ein doppelter Gewinn für das einstmals geteilte Deutschland sein. Und für die Behörde, die vielleicht einmal einen neuen Namen trägt und einen neuen Ton anschlägt.

Als Zeitzeuge sagte Roland Jahn einmal: „Auch in einer Diktatur scheint die Sonne.“ So wie an jenem Dienstag im Juni 1983 in Jena.

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