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Neurowissenschaft: Die Suche nach dem sechsten Sinn

Kann auch der Mensch Magnetfelder spüren? Eine wichtige biologische Voraussetzung für die Wahrnehmung von Magnetismus ist beim Menschen jedenfalls vorhanden.

Robin Baker steht bei seriösen Neurowissenschaftlern nicht gerade hoch im Kurs. In den 1970er Jahren wurde der magnetische Orientierungssinn von Zugvögeln entdeckt. Der Brite erregte damals Aufsehen für seine Behauptung, auch Menschen könnten sich am Magnetfeld der Erde orientieren. Zum Beweis hatte er Versuchspersonen mit verbundenen Augen und verstopften Ohren auf Drehstühle gesetzt. Nach mehreren Runden konnten diese angeblich immer noch die ungefähre Himmelsrichtung angeben. Durch einen Störmagnet am Kopf verschwand die erstaunliche Fähigkeit. Bakers Theorie zufolge justiert sich der innere Kompass an visuellen Orientierungspunkten, so dass er im Schlaf gelöscht wird.

Bakers Ergebnisse waren jedoch zu schön, um wahr zu sein. Sie konnten von anderen Forschern nie bestätigt werden, im Gegenteil: In mehr als einem Dutzend gründlich überprüfter Experimente zeigte sich der Homo sapiens sogar gegenüber stärksten Magnetfeldern blind wie ein Maulwurf. Heute ist allgemein anerkannt, dass zahlreiche Tiere einen Magnetsinn haben: Vögel, Reptilien, Fische, Insekten, Mäuse, Rinder und auch Maulwürfe. Dem Menschen dagegen ist, nach herrschender Lehrmeinung, kein sechster Sinn gegeben.

Wie der Magnetsinn der Tiere genau funktioniert, ist nicht geklärt. Bisher wurden drei hypothetische Magnetorgane entdeckt, die vollkommen unterschiedlich arbeiten. Haie haben in ihrer Schnauze hoch empfindliche elektrische Sinnesorgane. Sie eignen sich auch als Kompass, weil im elektrisch leitenden Fischkörper (durch Induktion) eine Spannung entsteht, wenn der Hai durch das Erdmagnetfeld schwimmt. Nach einem anderen Prinzip funktioniert das Magnetorgan, das im oberen Schnabel vieler Vogelarten sitzt. Dessen spezielle Sinneszellen enthalten winzige Kristalle aus Magnetit (einem Eisenoxid), die sich wie Kompassnadeln ausrichten. Auf bislang ungeklärte Weise entstehen dabei Nervenimpulse, an denen sich der Vogel orientiert.

Die dritte Variante des Magnetsinns basiert auf speziellen Molekülen (Kryptochromen), die blaues Licht in chemische Energie umwandeln. Bei Tieren sind Kryptochrome an der Steuerung des Tag-Nacht-Rhythmus beteiligt. Wie sich kürzlich herausstellte, wird die Lichtreaktion der Kryptochrome durch Magnetfelder beeinflusst: Durch das Licht entstehen einzelne („ungepaarte“) Elektronen, die wie Kreisel um ihre Längsachse rotieren. Die Drehung der negativ geladenen Elektronen wird, wie jede bewegte elektrische Ladung, von Magnetfeldern gestört. Weil ungepaarte Elektronen nur in einer bestimmten Drehrichtung chemische Reaktionen eingehen, hängt die Lichtreaktion der Kryptochrome von ihrer Orientierung zum Magnetfeld ab.

Weil Kryptochrome hauptsächlich in der Netzhaut des Auges sitzen, nehmen damit ausgestattete Tiere (etwa Vögel, Nagetiere, Schmetterlinge, Taufliegen) Magnetfelder wahrscheinlich als Überlagerung ihrer optischen Eindrücke wahr, also als Helligkeits- oder Farbveränderungen. Neurobiologen vermuten, dass dieser visuelle Magnetsinn nicht nur als Kompass, sondern auch als Hilfe beim dreidimensionalen Sehen dient. Wie es aussieht, ist der Mensch mit seiner Blindheit gegenüber Magnetfeldern im Tierreich eher die Ausnahme von der Regel – oder vielleicht doch nicht? Immerhin besitzen auch Menschen das für die Bildung von Kryptochrom verantwortliche Gen „cry“.

Forschern der Universität von Massachusetts (USA) gelang jetzt ein erstaunliches Experiment. Sie verwendeten Taufliegen, die die Fähigkeit zur Orientierung im Magnetfeld verloren haben. Setzt man diesen Fliegen das cry-Gen des Menschen ein, funktioniert der innere Kompass wieder. Eine wichtige biologische Voraussetzung für die Wahrnehmung von Magnetismus ist also auch beim Menschen vorhanden.

Die Entdeckung dürfte Stoff für viele Diskussionen liefern, etwa zu der Frage, ob die von Gläubigen gesehenen „Heiligenscheine“ Magnetfelder waren. In neuem Licht erscheint auch der Bericht des mikronesischen Navigators Nainoa aus den 80er Jahren, der auf dem Pazifik sicher seine Ziele ansteuerte, bei bedecktem Himmel und ohne jede Orientierung. Wenn er sich verirrt hatte, schloss er die Augen um zu „sehen“, in welcher Richtung sein Ziel lag. Nur eines durfte er nie tun: Auf seinen über 5000 Kilometer langen Fahrten schlief Nainoa nie länger als drei Stunden – sonst war sein innerer Kompass gelöscht.

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.

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