zum Hauptinhalt
Grande Dame. Inge Keller als Gnädige Frau in den „Zofen“ am Deutschen Theater im Jahr 2003. Foto: imago

© IMAGO

Politik: Abstand, oder ich schieße!

Sie ist die letzte deutsche Diva. Die einzige Aristokratin, die die DDR je hatte. Heute wird sie 90. Ein Leben jenseits der Bühne ist für die Schauspielerin Inge Keller noch immer unvorstellbar.

Alles im Leben ist eine Frage der Haltung. Inge Keller, die Urpreußin, weiß das. Und es ist nicht wahr, dass man in einem Bett liegend nicht thronen kann. Inge Keller kann auch das. Zur Begrüßung trägt sie ein kleines Lächeln im Gesicht, das für die Umstände um Nachsicht bittet und trotzdem Willkommen! sagt.

Berlin, Mitte November. Sie bekam den „Faust“, den wichtigsten deutschen Theaterpreis und – war nicht da. Sie erhielt ihn für ihr Lebenswerk – und ging nicht hin.

Das konnte nicht sein.

Hätte sie, gerade sie, nicht jede Fortbewegungsweise, jede Beförderungsart akzeptiert, um ihn selbst in den Händen zu halten? Sie hätte es mit dieser so wohlbekannten vollendeten Ingekellerhaftigkeit getan: gebieterisch beinahe, dabei doch voller Demut. Eine schmale, fast durchscheinende Gestalt, kerzengerade im Beifallssturm stehend, mit dem feinen, wissenden Greisinnenlächeln – sie gehört zu den Menschen, deren Altersgesichter schön sind –, in gemessenen Abständen ganz leicht den Oberkörper neigend. So wie immer. Sie hat den Beifall nie allein für sich genommen, dieser Hochmut lag ihr fern: Sie nahm ihn stellvertretend für die Kunst. In diesen Dingen ist die frühere Staatsschauspielerin der DDR Platonistin und war es immer. Der Mensch ist auf eine Vollkommenheit angelegt, welche es auch sei.

Früher, als das Wort Diva noch eine Bedeutung besaß, hätte man sie so nennen dürfen. Vielleicht ist Inge Keller die letzte.

Und sie war die einzige Aristokratin, die die DDR je hatte.

Ihre Laufbahn passt in einen einzigen Satz, und den hat sie auch noch selbst formuliert: „Wolfgang Langhoff hat mich auf den Iphigenie-Thron gehievt – und oben sitzen gelassen.“ Das war 1963 am Deutschen Theater. Sie hat seitdem schon oft versucht, da wieder runterzukommen, vergebens.

Die Stimme ist ungebrochen. Sie hat noch immer die Stimme eines Oberbefehlshabers, dabei klaftertief, weltdunkel. Heute wird Inge Keller 90 Jahre alt, und sie weiß, was sie will im Leben. „Ich will in den Rollstuhl!“, sagt sie. Man muss das übersetzen. Es heißt genauer: „Ich will zurück auf die Bühne!“

Dort hat sie zuletzt „Tilla“ gespielt. Tilla Durieux war eine ihrer großen Vorgängerinnen am Deutschen Theater; in Christoph Heins Stück blickt Tilla Durieux im Alter von 91 Jahren zurück auf ihr Leben. 91? Was die kann, kann ich auch, weiß Inge Keller.

Geistig ist da kein Zittern. In den Beinen schon.

Inge Keller im Rollstuhl, das war bis eben unvorstellbar. Egal, ob sie in den Sonntags-Matineen des Deutschen Theaters Kleists „Marquise von 0.“ oder Thomas Manns „Die Betrogene“ sprach: In den letzten Jahren saß sie immer schon da, wenn der Vorgang aufging. Das Risiko lag beim Zuhörer: Wer je Inge Keller hörte, wird bis an sein Lebensende ihren Ton im Ohr haben, ihre Satzbögen, die ein Atem waren, oder sie waren unterbrochener Atem, und dann ging ein Riss durch die Schöpfung. Und er wird ihr Schweigen hören.

Es sind die Pausen. Keine macht Pausen wie sie, Weltpausen. Inge Keller gehört zu den seltenen Schauspielerinnen, die mit ihrem Atem die Erde anhalten können.

„Ja, wenn dieser Sturz nicht gewesen wäre!“ Bis vor kurzem hat sie allein in ihrem schönen Haus in Pankow gewohnt, umgeben von Kunstwerken, die ihr Maler und Bildhauer schenkten, die sie bewunderten. Der Garten steigt leicht an, draußen steht ein weißer Korbstuhl aus Thomas Langhoffs Inszenierung der „Drei Schwestern“. Langhoff, der Stühle-Regisseur. Sie wird jetzt wohl zur Rollstuhlschauspielerin werden müssen.

Es klingt nicht klagend, wenn sie über ihren Sturz spricht, nicht hadernd, eher missbilligend. Man kann von Inge Keller keine Leidens- und Krankengeschichte erwarten. Was sie sich gebrochen habe? Alles!, sagt sie bescheiden. Viele Operationen, fügt sie hinzu, als handelte es sich um eine gerechte Strafe für so viel Unaufmerksamkeit im Alter.

Man darf die Tragik dieser Sätze nicht überhören. Es gibt wohl kein Leben für diese Frau jenseits der Bühne, noch immer nicht. Gab es noch nie. Als sie 60 wurde, hat sie es so beschrieben: „Ich finde, für einen totalen Schauspieler ist es ganz schwer, außerhalb des Theaters etwas Reales zustande zu bringen.“ Sie habe dieser Konsequenz Widerstand geleistet, mit aller Inständigkeit, doch vergebens: „Weil ich zu jeder Tages- und Lebenszeit die Forderung der Bühne und des Abendspielplans als unabweisbar betrachte.“ Zu ihrem 80. Geburtstag machte sie das einzig ihr Angemessene. Sie arbeitete. Sie las Thomas Manns „Tonio Kröger“.

Es ist eine Alten-WG in Berlin-Niederschönhausen. Eine gesichtslose Straße, ein gesichtsloses Haus. An jedem Zimmer klebt ein Bild, darunter ein Name. Da ist ein sentimentales Seeufer mit Haus, an der nächsten fliegen bunte Luftballons in den Himmel. An der ihren steht „Inge Keller“ über einem Strauß roter Rosen. Nirgends scheint sie weniger hinzupassen, die Frau, deren Lebensmotto lautete: „Abstand, oder ich schieße!“

Alles an dieser Frau ist Form, keine ihrer Bewegungen ist zufällig. Nie lässt sie auch nur eine Silbe achtlos herumliegen, sie spricht jeden i-Punkt, aber so, wie es seine ureigenste Individualität verlangt. Eigentlich ist es kaum vorstellbar: Die Grande Dame des Deutschen Theaters empfängt im Bett! Wehrloser, thronloser kann man nirgends sein.

Ihre Möbel sind das nicht. Das Bett nimmt die Mitte des Zimmers ein. Sie lässt sich nicht an den Rand schieben, nicht einmal in einem wildfremden Krankenzimmer. Wo sie ist, ist die Mitte. Der Himmel vor den großen Fenstern steht weit offen. Den Blick mag sie, es ist ihr Stück Welt jetzt. Ihre Sachen hängen wie in einer Theatergarderobe an einer Stange. „Sie sehen, mein Leben ist auf den Kopf gestellt“, sagt sie, um sich sofort zu verbessern: „Dies ist nicht mein Leben.“ Aber sie trainiert, einmal wird sie es auch ohne Hilfe bis zum Rollstuhl schaffen. Und es länger als ein paar Augenblicke darin aushalten können. Überm Laken liegen ihre schönen, langen schmalen Hände mit dem großen Ring, sie halten einen kleinen Pandabären, den sie immer neu umfassen.

1923 ist sie geboren. Da kostete ein Dollar 4,2 Billionen Mark, Frankreich besetzte das Ruhrgebiet, in Hamburg probten die Kommunisten den Aufstand, Hitlers Putsch scheiterte an der Münchner Feldherrnhalle, und in der Berliner Tiergartenstraße störte ein kleines Mädchen seine Mutter, die Lausitzer Fabrikantentochter, beim Klavierspielen.

Dass die Welt der Familie Keller nicht wie die so vieler in tausend Scherben zersprang, verdankte sie einem besonders harten altvulkanischen Lausitzer Stein. Sein Name ist Diabas, wegen seiner Farbe auch Grünstein genannt. So glitzert er noch heute aus dem Avus-Asphalt, gefördert in Vater Kellers Steinbruch, der bald zum Diabas-Werk wurde.

Ende der 20er Jahre hielt in der Berliner Tiergartenstraße jeden Morgen ein Mercedes-Benz, schokoladenbraun, schwarz abgesetzt. Der Chauffeur öffnete den Schlag für ein kleines, etwas dickliches, faules Mädchen, um es zur Schule zu fahren. Inge Keller wird das alles später so zusammenfassen: „Ich bin geboren auf der Seite des größeren Aufwands.“ Lange schien ihr das gänzlich unverdächtig.

Doch der höheren Tochter war auf ihre Weise durchaus widerständlerisch zumute. Statt zum BDM-Aufmarsch ging sie bald lieber mit Freundinnen zum Fünfuhrtee ins „Bristol“ an der Ecke Uhlandstraße/Kurfürstendamm. Im Sommer flegelte sie sich mit anderen in Kanus auf dem Wannsee, sie hörten Ella Fitzgerald und Louis Armstrong und reichten das Grammofon schnell von Kanu zu Kanu, wenn die Wasserschutzpolizei Kurs auf die unvölkische Lärmquelle nahm. Nur wenige Meter entfernt fand die Wannseekonferenz statt, das wird sie später erschrecken. Und wenn sie es gewusst hätte? Sie fragte ja nicht einmal nach den jüdischen Mitschülern, die plötzlich fehlten. Das erschreckte sie auch.

In der Obertertia verließ Inge Keller das Lyzeum. Ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Selbstausgrenzung attestierte ihr der Bruder schon damals. Aber es war wohl mehr der Stolz, dass ein schöner junger Mann, mit dem sie bekannt war und gern noch bekannter werden wollte, ausgerechnet sie fragte, ob sie alles hinwerfen und mit ihm gemeinsam an die Schauspielschule gehen wollte. Ja, das wollte sie.

Der Titel ihres Buches, das sie mit Hans-Dieter Schütt gemacht hat, fällt ihr ein: „Alles aufs Spiel gesetzt!“ Ein so schöner und doch beinahe tödlicher Doppelsinn. War „alles“ nicht doch zu viel?

„Auf der Strecke blieb Barbara“, sagt sie, und es liegt eine späte Reue darin. Barbara sei mehr das Kind ihrer Haushälterin als das ihre gewesen. „Dabei habe ich die wunderbarste Tochter der Welt!“ Barbara Schnitzler, wie ihre Mutter Schauspielerin am Deutschen Theater, hat ihrer Mutter dieses Exil gefunden, diesen Weltschlupfwinkel, diesen Transitraum zu sich im 90. Jahr.

Barbara Schnitzler ist die Tochter von Karl-Eduard von Schnitzler, dem späteren Chefkommentator des DDR-Fernsehens. Inge Keller und Karl-Eduard von Schnitzler, zwei Westberliner Kinder von der „Seite des größeren Aufwands“ kurz nach dem Krieg. Er würde einmal der größte Agitator der DDR werden, und sie eine der größten Schauspielerin der DDR. Da gingen sie längst getrennte Wege.

Westberliner Schauspieler traten gern im Osten auf, denn dann erhielten sie „Pajoks“, extra Verpflegungsrationen. Und wegen eines solchen Pajoks vermisste Boleslaw Barlog, der ungekrönte König des Westberliner Nachkriegstheaters, 1948 plötzlich von einem Abend auf den anderen sein Pützchen in „Des Teufels General“. Er brauchte dringend ein neues, als eine schöne junge Frau vor ihm stand und sinngemäß sagte: Ich bin’s! Barlog glaubte das anfangs nicht, aber was sollte er machen?

Zwischen 1948 und 1950 spielte Inge Keller nun das Pützchen. Draußen vorm Schlossparktheater wartete Karl-Eduard von Schnitzler. „Pass mal off, Kleene“, sagte Barlog, der unter den Nationalsozialisten Hilfsbademeister gewesen war, „ick find den ja ooch prima, aber lassn loofen. Lassn loofen, in zwei Jahren biste in Hollywood.“ Ihr Bruder hielt gleichfalls nicht viel von Schnitzler: „Einen Grafen brauchst du, aber einen echten und keinen, der auf der Mülltonne predigt.“ Hollywood und Grafen waren ihr egal; Schnitzler liebte sie, er hatte damals auch noch nicht viel Ähnlichkeit mit sich, und zwei Jahre später war Inge Keller nicht in Hollywood, sondern am Deutschen Theater. Für sie war das mehr. Bertolt Brecht, Wolfgang Langhoff, Ernst Busch, Wolfgang Heinz. Sollte das Land, das das bessere Theater hatte, nicht überhaupt das bessere sein? „Ich wollte nicht zu Filbinger und Co., zu Nazitätern in Amt und Würden.“

Ein Bretterboden, drei Bänke, fünf Schauspieler und des Dichters Wort. „Ich kann noch immer die ganze Iphigenie sprechen“, sagt Inge Keller. Einen Augenblick lang hat es den Anschein, als wollte sie damit beginnen, aber dann fällt ihr ein, wie anders heute unsere Sprache klingt, so verwahrlost. Und wenn sie ein Wort hasse, aus tiefster Seele, dann sei das „okay“.

Ob Robert Wilson gewusst hat, in welcher Gefahr er sich befand, als er Inge Keller für seine „Shakespeare-Sonette“ am Berliner Ensemble haben wollte? Unvorstellbar, Wilson hätte „okay“ gesagt, wenn sie ihren Text gesprochen hätte. Aber der Texaner Robert Wilson sagte etwas anderes. Er sagte. „Great, Inge!“ Das mochte sie. „Und solange er nicht ‚Great!’ sagte, habe ich es eben noch einmal probiert.“ Wilson habe sie auch schon hier besucht, mit Dolmetscher und Tonmeister. Das schwarze Textbuch da unten auf dem Stuhl, ob sie es haben könne?

Inge Keller legt den kleinen Bär aus der Hand, schlägt das Textbuch auf und beginnt dann doch, ohne hineinzusehen: „All dessen müd, nach Ruh im Tod ich stöhn:/Seh ich Verdienst zum Verdienst zum Betteln bloß geborn,/Und kleine Nullen sich im Aufwind blähn …“ Sie hat den kleinen Nullen immer Widerstand geleistet. Als im Dezember 1965 der erste Hass-Text gegen Wolf Biermann im „Neuen Deutschland“ erschien, protestierte sie: gegen die Sprache des Artikels, „eine Sprache, die allen Menschen, die sich wie ich dem Humanismus unseres Staates verschrieben haben, zuwider ist“.

Es klopft. „Das ist Kai!“, unterbricht sich die Vortragende. „Ich weiß, Sie wollen stechen!“, sagt sie zu dem jungen Mann mit der Spritze. Sie hat wieder nicht geschlafen in dieser Nacht.

„Kleine Nullen im Aufwind.“ Manchmal glaubt sie, es werden immer mehr, so kurzlebig wird die Zeit, auch das Theater. Als sie damals mit Ulrich Mühe Ibsens „Gespenster“ spielte, war das nicht wie heute für ein oder zwei Spielzeiten, sondern 13 Jahre lang. Damals, als Frau Alving, wurde sie ganz Mutter, mit jeder Seelenfaser – in der Kunst. Sie wurde Mutter eines schon verlorenen Sohns. Ulrich Mühe bekannte: „Dass das geht! Dass man spielend alles loslassen kann! Fallen, ohne zu versinken. Fliegen, ohne zu verschwinden. Diese wunderbare Erfahrung verdanke ich Inge Keller.“

Leben heißt, verbraucht zu werden, hat sie einmal gesagt. Und dass es ein großes Glück sei, nach seinen besten Fähigkeiten verbraucht zu werden: „Ich will mein Gesicht durchhalten!“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false