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Vor zehn Jahren stirbt der Familienvater Alberto Adriano an Kopfverletzungen, die ihm drei Neonazis in einem Park zugefügt haben. Sein Foto mit dem Trauerflor am Rahmen wird nach 2000 zum Symbol für neonazistische Gewalt.

© dpa

Opfer rechter Gewalt: Alberto Adriano - der Tod eines Vaters

Vor zehn Jahren erschlagen drei Neonazis den Afrikaner Alberto Adriano. In jener Nacht endet auch die Kindheit des achtjährigen Sohnes, der zur Ikone der Toleranz werden soll – aber nicht will. Eine Reportage in unserem Themenschwerpunkt.

Er ist ein Kind, nur acht Jahre alt, als er vor die vielleicht schwierigste Frage gestellt wird, die es überhaupt gibt. „Meine Mutter kam aus dem Krankenhaus nach Hause und fragte mich, ob die Maschinen, die meinen Vater am Leben hielten, abgestellt werden sollten“, sagt Belarmino Adriano. „Ich habe ,ja’ gesagt.“

Am 14. Juni 2000 stirbt Alberto Adriano im Alter von 39 Jahren nach drei Tagen im Koma an den Kopfverletzungen, die ihm drei rechtsextremistische Skinheads im Stadtpark von Dessau zugefügt hatten. Zwölf Jahre zuvor war er als Vertragsarbeiter aus Mosambik nach Dessau in die untergehende DDR gekommen, als Fleischermeister. Den Job behielt er auch nach der Wende. 1990 lernte er seine spätere Ehefrau Angelika kennen. 1992 wurde Belarmino geboren, später zwei jüngere Geschwister. Fotos aus jener Zeit zeigen Alberto Adriano als einen lächelnden, eher kleinen Mann mit rundem Gesicht, kurzen, schwarzen Haaren und Bart.

„Konsequent, immer nett, fürsorglich“ – das sind die Adjektive, die dem ältesten Sohn zu seinem Vater einfallen. Mit seiner zierlichen Statur und dem Lächeln sieht der heute 18-Jährige seinem Vater auf den ersten Blick ähnlich. Doch die Ähnlichkeit hat Grenzen. Die blassen Knasttätowierungen auf den Armen und der funktional-nüchterne Besucherraum im Maßregelvollzug, in dem der Teenager nach Worten für seinen Lebensweg sucht, zeugen davon.

„Ich wollte einfach weiter meine Kindheit leben“, erinnert sich Belarmino Adriano an die Zeit nach dem Mord. Doch das war nicht mehr möglich. „Jeder kannte mich in Dessau.“ Bis er 13 Jahre alt war, sei er „immer nur der Sohn von dem Adriano aus dem Stadtpark gewesen“. Er erzählt auch von dem Morgen nach dem Angriff. Davon, wie seine Mutter weinend am Küchentisch saß, umgeben von Freunden. Es sei ihnen schnell klar geworden, dass der Vater nicht überleben werde. „Ich wollte mich noch verabschieden“, sagt der Sohn, „aber meine Mutter hat mich nicht mehr ins Krankenhaus gelassen.“

Als Alberto Adriano stirbt, sind seine Mörder längst gefasst. Ohne erkennbare Gefühlsregungen haben sie Geständnisse abgelegt – und mit jedem Wort deutlich gemacht, dass in ihrer Weltsicht jene, die ihnen als „anders“ gelten, etwa Schwarze, Juden, Behinderte, kein Lebensrecht haben. Der Mord an Alberto Adriano löst eine Welle der öffentlichen und medialen Empörung aus. 5000 Menschen demonstrieren in der drittgrößten Stadt Sachsen-Anhalts. Ein paar Wochen nach der Gewaltorgie besucht der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder einen am Tatort aufgestellten Gedenkstein. Und für Angelika Adriano und ihre Kinder beginnen Monate einer aus Neugier, Mitleid, Fürsorge und politischem Kalkül befeuerten Belagerung: Journalisten, Kommunal- und Landespolitiker, Repräsentanten von Migrantenorganisationen – „ständig sollte ich erzählen, wie ich mich fühle“, sagt Belarmino. Und: „Alle wollten, dass ich meinen Vater würdig vertrete.“

Doch die Erwartungen an Familienangehörige von Opfern schwerster Verbrechen, noch dazu rassistischer Gewalt, sich als „Aushängeschild“ für Toleranz zu engagieren, sind groß. Sie überfordern den Jungen. Während das vom Trauerflor umrahmte Bild seines Vaters um die Jahrtausendwende zu dem Symbol neonazistischer Gewalt schlechthin wird, fühlt sich der Sohn von den damit einhergehenden Erwartungen erdrückt. Seine trotzige Reaktion auf die Erwartungen durch die Familie, deren Freundeskreis und Wohlmeinende war Ablehnung: „Ich wollte nicht zu multikulturellen Veranstaltungen gehen, mir politische Reden anhören.“ Und: „Ich wollte mir einen anderen Namen machen als mein Vater.“

Während der Achtjährige sich immer mehr abkapselt, kämpft Angelika Adriano im Gerichtssaal mit den grauenhaften Details der Mordnacht – und um die Würde ihres Mannes. Anders als viele andere Angehörige der Opfer rechtsextremistischer Gewalt findet die 43-Jährige in den Richtern und der Bundesanwaltschaft Mitstreiter. Die oberste Anklagebehörde sah in dem Mord an Alberto Adriano „eine Gefährdung der inneren Sicherheit“ Deutschlands.

Der 10. Juni 2000 war ein Pfingstsonnabend. Die Fußball-Europameisterschaft in Belgien und den Niederlanden lief gerade an, und während Alberto Adriano das Eröffnungsspiel bei Freunden in Dessau anguckt, verpassen am Dessauer Hauptbahnhof drei junge Männer ihre Züge: Christian R. und Frank M., zwei 16-jährige aus der nahen Industriestadt Wolfen, und der 24-jährige Enrico H. aus dem brandenburgischen Finsterwalde. Was danach geschah, rekonstruierte das Oberlandesgericht Naumburg wie folgt: An ihren damals szenetypischen Outfits – schwarze Springerstiefel, kurz geschorene Haare, bei M. zudem ein angedeutetes Hitlerbärtchen – erkennen sich die drei unschwer als „Kameraden“. Sie betrinken sich, grölen das Afrikaner verhöhnende Afrika-Lied der Neonazikultband „Landser“, die 2005 zur kriminellen Vereinigung erklärt wurde. Nach Mitternacht ziehen sie durch die Straßen der Dessauer Innenstadt. Unüberhörbar skandieren sie: „Hier marschiert der Nationale Widerstand“, „Juden Raus“ und „Heil Hitler“. Niemand schreitet ein.

Gegen 1.30 Uhr treffen sie auf Alberto Adriano, der auf dem Rückweg vom Fußball-Fernsehabend ist. 400 Meter sind es von der Wohnung seiner Freunde zur eigenen Haustür, quer durch den Dessauer Stadtpark, mitten im Zentrum der Bauhausstadt. Noch auf der Straße, kurz vor dem Park, versperren Enrico H., Frank M. und Christian R. ihm den Weg.

„Die Angreifer finden ein Opfer ihres gemeinsamen Hasses“, werden die Richter des Oberlandesgerichts Naumburg zwei Monate später in ihrem Urteil feststellen. „Der Ungeist des Afrika-Lieds entfaltet seine Wirkung.“ Mit unsagbarer Brutalität wird Alberto Adriano zu Tode gequält. Als er nach zahllosen Schlägen und Tritten ohnmächtig am Boden liegt, zertreten ihm die Angreifer mit den schweren Springerstiefeln den Schädel.

Am Ende eines außergewöhnlich zügigen Prozesses – zwischen Tat und Urteil lagen nur zwei Monate – wird ein bemerkenswertes Urteil gesprochen: Erstmals stellt ein Gericht öffentlich einen Zusammenhang zwischen mörderischem Rassismus und Neonazi-Musik fest. Enrico H. wird wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, seine jüngeren Mittäter zu jeweils neun Jahren Jugendhaft, sie sind inzwischen wieder frei.

„Reue“, sagte der Vorsitzende Richter bei der Urteilsverkündung, habe „keiner der Angeklagten im ernstzunehmenden Maße gezeigt“. Inzwischen wurde auch bekannt, dass der Haupttäter Enrico H. aus dem Gefängnis heraus an dem neonazistischen „JVA Report“ mitarbeitete, das den „Austausch“ zwischen inhaftierten Rechtsextremisten und „der Bewegung“ draußen fördern soll.

Angelika Adriano ging ohne ihre Kinder zur Verkündung des Urteils. Sie hatte zuvor anonyme Morddrohungen erhalten. Diese Drohungen waren nur der Anfang. Zunächst spendierten Unbekannte Belarmino und seinen Geschwistern auf der Straße noch Eiswaffeln und tröstende Worte; doch gleichzeitig wurden die Familie und ihre mosambikanische Freunde und Bekannte von der Dessauer Wohnungsbaugesellschaft mit Hausverboten und Kündigungen überzogen. Nachbarn hätten sich über Kinderlärm beschwert, hieß es zur Begründung.

Angelika Adriano zieht mit Baby, Klein- und Schulkind aus dem Stadtzentrum weg in ein anderes Viertel. „Meine Mutter wollte es alleine schaffen“, auch ohne den Vater, sagt Belarmino Adriano, „und ich auch“.

Er fand im Alter von 14 Jahren ein Ventil für sein Unglück, seinen Frust, seine Trauer. Da entdeckte er „seine Jungs“, gleichaltrige und etwas ältere Jugendliche türkischer, kurdischer und afrodeutscher Herkunft. Am Wochenende zogen sie nachts nach Dessau-Süd und verprügelten Nazis – und solche, die es noch werden könnten oder die sie dafür hielten. Für Belarmino wurde es ein privater Rachefeldzug: „Mein Vater konnte nachts nicht durch Dessau gehen – ich schon“, sein wütendes Motto.

In seinen Sätzen, seinem Leben spiegelten sich der Wunsch nach Anerkennung und nach Abgrenzung vom diesem fernen, toten Vater. Wäre der Vater heute stolz auf ihn? Ein eher verlegenes Lächeln. „Auf manches“, sagt er, „aber auf vieles, was ich gemacht habe, vermutlich eher nicht“. Erst jetzt, durch therapeutische Gespräche, beginnt für ihn ein Reflexionsprozess über den eigenen Umgang mit Gewalt.

Irgendwann blieb es auch nicht mehr bei Prügeln für „die Rechten“. Belarmino und seine Kumpels raubten sie aus, von dem Geld und den Wertsachen kauften sie Drogen. Mit dem Trinken hatte er schon als Zwölfjähriger begonnen, und nun häuften sich Festnahmen, Jugend- und Bewährungsstrafen. Als 16-Jähriger verließ Belarmino das Haus nur noch nachts, die Schule hatte er längst geschmissen, im Oktober 2008 wurde er erneut verhaftet. Das Urteil für den Bewährungsversager: zwei Jahre und zehn Monate Jugendstrafe und Unterbringung im Maßregelvollzug zum Drogenentzug und wegen mehrfacher gefährlicher Körperverletzung und Raub.

Er kam in die Jugendvollzugsanstalt im sachsen-anhaltinischen Raßnitz – dahin, wo auch jugendliche und heranwachsende Nazischläger wie die beiden jüngeren Mörder seines Vaters untergebracht sind. Im anschließenden Maßregelvollzug machte Belarmino Adriano seinen Hauptschulabschluss und bekämpfte seine Sucht. Im Sommer kommenden Jahres, so hofft er, werde er entlassen – die Rückkehr nach Dessau ersehnt und fürchtet er zugleich.

Die 80 000-Einwohner-Stadt zählt zu den Schwerpunktregionen politisch-rechts motivierter Gewalt in Sachsen-Anhalt. Und es ist die Stadt, in der dunkelhäutige Männer berichten, dass sie sich mitten im Winter bei einer Polizeikontrolle auf offener Straße nackt ausziehen müssten, in der der Asylbewerber Oury Jalloh im Januar 2005 aus bisher nicht abschließend geklärten Gründen in einer Polizeistation verbrannte.

Trotzdem sagt Belarmino Adriano, dass es für ihn nicht in Frage komme, Dessau zu verlassen. Die Stadt sei der einzige Ort, an dem er sich sicher fühle. Eine paradoxe Sicherheit – verbunden mit der Angst vor dem Unbekannten und den Hoffnungen in Freunde und Familie. „Und ich kann zu dem Baum gehen, an dem mein Vater starb.“

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