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Deutsche Außenpolitik in der Zeitenwende: Zu viel Trägheit, zu wenig Entscheidungen
Die Bundesrepublik benötigt ein neues Nachdenken und möglichst bald Beschlüsse über ihre außen- und verteidigungspolitischen Prioritäten.
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Gegenwärtig navigiert die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik durch eine globale Sturmfront: Alles ist in Bewegung, nichts mehr stabil. Dass weltweit wieder das Recht des Stärkeren gilt und die Vorstellung von der Stärkung des Rechts in weite Ferne gerät, ist ein Anschlag auf Deutschlands Ideal einer Verrechtlichung der Weltpolitik.
Ebenso, dass keine multipolare Ordnung in Sicht ist, sondern eine Blockbildung rund um die Vereinigten Staaten auf der einen und China und Russland auf der anderen Seite, samt einer Vielzahl von Staaten, die sich keinem Block zuordnen wollen.
Wie angesichts dieser unerwünschten Konstellation bei Lähmung der Vereinten Nationen noch globale öffentliche Güter bereitgestellt werden sollen – ob Klima- oder Pandemieschutz –, erschließt sich nur schwer.
Auch bleibt offen, wie Deutschland seinen Wohlstand erhalten kann, wenn das Globalisierungsmodell, von dem die Nation lebt, unter Druck steht. Und all das, während Russland die Ukraine und zugleich die europäische Friedensordnung zerstört, dabei die Nato, die Europäische Union und Deutschland bedrohend, direkt und nuklear.
Kurzum: Deutschland befindet sich inmitten einer außen- und sicherheitspolitischen Krise, die sogar eine Strukturkrise ist. Denn die tektonischen Verschiebungen unserer Zeit treffen Deutschland stärker als andere westliche Staaten.
Die verunsichernde Auflösung von Gewissheiten, die Lockerung oder Lösung aller möglichen Stabilitätsanker und die mangelnde Vorbereitung auf Veränderungen sowie die Bewältigung eigener Fehler aus der Vergangenheit – etwa im Verhältnis zu Russland – verschärfen die Lage zusätzlich.
Angesichts des ordnungsunterminierenden Charakters des globalen Wandels besteht wenig Zweifel daran, dass die Ausrufung einer allzu eng definierten Zeitenwende keinesfalls genügen kann. Die Bundesrepublik benötigt ein neues Nachdenken und möglichst bald Beschlüsse über ihre außen- und verteidigungspolitischen Prioritäten, über die notwendigen Mittel und Instrumente sowie die unverzichtbare Ausstattung.
Idealerweise könnte die Bevölkerung bei einer Bundestagswahl auch über außenpolitische Konzepte abstimmen. Angesichts des fortdauernden und ergebnisoffenen Waffengangs in der Ukraine und im Nahen Osten ist es dazu diesmal zu früh.
Zwar hat das Nachdenken an verschiedenen Stellen der Republik längst begonnen, aber noch nicht umfassend und gesamtstrategisch. Die Unterschiede zwischen den Parteien der Mitte, die sie in den außen- und sicherheitspolitischen Segmenten ihrer Wahlplattformen präsentieren, sind graduell, nicht prinzipiell.
Allein zwischen den Parteien der Mitte und den populistischen Bewerbern vom rechten und linken Rand sind fundamentale Differenzen erkennbar. Vereinfachend formuliert, spiegelt sich hier der Unterschied zwischen national-protektionistischen und internationalistischen Politikansätzen.
So wird es der neuen Bundesregierung zufallen, mitten in einem „Zeitalter des Zorns“, wie es Pankaj Mishra in seinem gleichnamigen Buch beschrieb, die demokratische Mitte zu festigen und die strategische Anpassung zu organisieren, um so Gestaltungsraum zu gewinnen.
Verschiedene Parteien setzen ihre Hoffnung (wie schon vor der vergangenen Bundestagswahl) auf die Gründung eines Nationalen Sicherheitsrates. Das wäre, falls durchsetzbar, eine sinnvolle, koordinierende Neuerung.
Aber es bliebe am Ende eine bürokratische Antwort auf eine Frage, die doch zuvörderst strategischer Lösungen und politischer Prioritätensetzungen bedürfte.
Das Nachdenken über die Erneuerung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik muss zum Ziel haben, was Jean-Claude Juncker einst „Weltpolitikfähigkeit“ nannte. Die kommende Bundesregierung muss – will sie mehr als eine allzu eng definierte Zeitenwende vollziehen – dringend ihre außen- und verteidigungspolitischen Prioritäten neu ordnen und wachsende Mittel dafür einplanen.
Sicherheit muss Priorität werden
Der Weg aus der Polykrise sollte zumindest vier Themenkomplexe umfassen: Souveränitäts-Sicherung, Partner-Gewinnung, Modernisierung, Beschleunigung.
Sicherheit muss finanzielle und ideelle Priorität werden. Deutschland sollte sich selbst wirtschaftlich und militärisch stärken, um Gegner abzuschrecken und zugleich ein attraktiver Partner innerhalb von Nato und EU zu sein.
Nur mit größen-adäquater deutscher Führung lassen sich bei nachlassender amerikanischer Unterstützung die innereuropäischen Zentrifugalkräfte einhegen. Priorisierung von Sicherheit muss zugleich Modernisierung heißen: der Streitkräfte, der Strategie, der Debatte.
Zeit spielte in Zeiten der Friedensdividende kaum eine Rolle. Nicht mal der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das grundlegend verändert. Die Neu-Ausrüstung der deutschen Streitkräfte wird nach gegenwärtigem Plan Jahrzehnte dauern. So viel Trägheit kann nur tolerieren, wer glaubt, dass die Bundesrepublik auf Jahrzehnte nicht abschreckungsfähig sein muss.
Dieser Beitrag ist der Auftakt zu einer Serie von Handlungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) für die neue Bundesregierung. Eine Langversion dieses Textes ist hier auf der Website der DGAP zu finden.
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