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Disziplin unterm Bundesadler - die gewählten Abgeordneten sollen sich ihrer Verantwortung stellen.

© Michael Kappeler/dpa

Brüchige Koalition, stabiles Grundgesetz: Was die Verfassung über Neuwahlen sagt

Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles werden Rufe nach einer Neuwahl des Bundestags laut. Doch der Abbruch einer Legislaturperiode ist aus gutem Grund selten.

Der Rücktritt von SPD-Chefin Andrea Nahles bringt die Bruchstellen der Großen Koalition zum Knirschen. Ohnehin begleitet das Regierungsbündnis seit dem Start eine Skepsis, ob es bis zum Ende der Legislaturperiode durchgehalten würde. Doch die gestalterischen Möglichkeiten werden durch das Grundgesetz begrenzt – das eben noch als eine der besten Verfassungen von allen gefeiert wurde.

Das Grundgesetz kennt kein Recht des Parlaments, sich selbst aufzulösen. Dies gilt als Ausweis von politischer Stabilität. Ein Parlament ist damit in gewisser Weise verurteilt, eine Regierung zu wählen. Und eine Regierung ist zum Regieren verurteilt, sobald sie im Parlament mit der Kanzlerwahl bestätigt wird.

Ein Rücktritt der Chefin Angela Merkel (CDU) würde daran zunächst einmal nichts ändern. Die Mehrheitsverhältnisse blieben konstant, es wäre eine neue Kanzlerin oder ein Kanzler wählbar. Eine Mehrheit der stimmberechtigten Abgeordneten genügt, bestimmt Artikel 63 Absatz 2 Satz eins der Verfassung.

Im Prinzip gibt es daher nur zwei Möglichkeiten, eine Legislaturperiode abzubrechen und vorzeitig zu Neuwahlen zu gelangen: Entweder scheitert eine Kanzlerwahl an entsprechend klaren Mehrheitsverhältnissen im Bundestag (Artikel 63 Absatz 4 GG). Oder eine Kanzlerin oder ein Kanzler stellen erfolglos die so genannte Vertrauensfrage (Artikel 68 GG).

Voraussetzung für die Selbstauflösung nach Artikel 63 sind gescheiterte Anläufe zur Kanzlerwahl. Auch dies ist ein Zeichen der von der Verfassung gewünschten Stabilität. Der Bundestag soll sich zusammenraufen müssen, ehe der Ausweg Neuwahl begangen wird. Scheitert die Wahl im ersten Anlauf, kann der Bundestag binnen 14 Tagen nach dem Wahlgang einen Kanzler oder eine Kanzlerin wählen (Artikel 63 Absatz 3 GG). Nötig ist dafür wiederum mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten.

Findet sich innerhalb dieser Frist die Mehrheit nicht zusammen, wird ein weiterer Wahlgang durchgeführt. Gewählt ist dann, wer die meisten abgegebenen Stimmen erhält, die so genannte einfache Mehrheit. Eine deutlich abgesenkte Hürde. Wird der Kandidat oder die Kandidatin dennoch mit der absoluten Mehrheit der Bundestagsmitglieder gewählt, muss der Bundespräsident sie oder ihn innerhalb von sieben Tagen zum Bundeskanzler oder zur Bundeskanzlerin ernennen. Wird dagegen nur die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen erreicht, muss der Bundespräsident die gewählte Person innerhalb der gleichen Frist entweder ernenne – oder aber den Bundestag auflösen.

Die Vertrauensfrage bietet einen Ausweg

Im Fall von Artikel 68 GG beantragen Kanzlerin oder Kanzler in der laufenden Legislaturperiode, dass ihnen das Parlament mit einfacher Mehrheit das erforderliche Vertrauen für ihre Regierungsarbeit ausspricht. Die Regierungschefs haben damit die Möglichkeit, die sie tragende Koalition zusammen zu zwingen – oder aber sie endgültig auseinanderzutreiben. Verfehlt der Antrag die Mehrheit, kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen (Artikel 68 Absatz 1, 2. Halbsatz).

Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder eine andere Bundeskanzlerin oder einen anderen Bundeskanzler wählt. Im Falle einer Auflösung des Bundestages findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt (Artikel 39 Absatz 1 Satz 4 GG).

Vorgezogene Neuwahlen sind wegen des voraussetzungsreichen Verfahrens selten, es gab sie in den Jahren 1972, 1983 und im Jahre 2005. Die Bundestagsauflösung 2005 war besonders umstritten, weil der damalige Kanzler Gerhard Schröder die Vertrauensfrage allein und sehr offensiv in der Absicht gestellt hatte, Neuwahlen herbeizuführen. Es handelte sich also letztlich um einen Antrag, ihm das Misstrauen auszusprechen – und nicht das Vertrauen, von dem das Grundgesetz in Artikel 63 spricht.

Das parlamentarische "Misstrauensvotum", mit dem ein Kanzler gestürzt und ein neuer gewählt werden kann, wird in Artikel 67 geregelt. Das Bundesverfassungsgericht hielt diese „auflösungsgerichtete“ Vertrauensfrage nach Artikel 68 bei politischen Krisenlagen allerdings für zulässig. Eine der Richter monierte damals, dass eine solche weite Auslegung einem Selbstauflösungsrecht schon sehr nahe komme.

Die verfassungspolitische Diskussion, dem Bundestag ein Selbstauflösungsrecht zu gewähren, hält sein Jahrzehnten an. Befürworter meinen, es sei der eigentliche Ausdruck von der durch den Bundestag vollzogenen Repräsentation des Wählerwillens, das Mandat an den Souverän auch wieder zurückgeben zu können. Kritiker halten dagegen, dass gerade die bisherige Einschränkung ein Garant politischer Stabilität gewesen sei. Das Parlament solle sich intensiv bemühen, eine Regierung zu bilden, und sich nicht seiner Verantwortung auf einfache Weise entziehen können. Europäische Staaten haben vereinzelt ein Recht auf Selbstauflösung verankert, etwa Polen, Ungarn oder Österreich. Dagegen ist ein Selbstauflösungsrecht in den Verfassungen der Bundesländer der Normalfall.

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