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Chef von Deutschlands größtem Jobcenter: „Dass Menschen ein Jobangebot ablehnen, kommt in der Praxis kaum vor“
Dirk Heyden, Geschäftsführer des Jobcenters Hamburg, spricht darüber, was die Pläne für die schwarz-rote Bürgergeldreform bei ihm vor Ort bedeuten würden. Ein Interview.
Stand:
Herr Heyden, Schwarz-Rot verschärft in der Grundsicherung die Linie gegenüber den Betroffenen deutlich. Was halten Sie insgesamt von den Plänen?
Für eine abschließende Bewertung der Pläne ist es noch zu früh. Es handelt sich ja zunächst um Absichtserklärungen der Bundesregierung, wir müssen abwarten, wie dann letztlich wirklich von Bundestag und Bundesrat entschieden wird.
Wer dreimal trotz Termins nicht im Jobcenter auftaucht, kann künftig alles verlieren, den Regelsatz und die Kostenübernahme fürs Wohnen. Wie oft kommt es vor, dass das Jobcenter überhaupt nichts von der Kundschaft hört und die sozusagen abtaucht?
Es ist nicht die Regel, dass die Kundinnen und Kunden des Jobcenters sich nicht melden. Gleichwohl gibt es solche Fälle. Es besteht hierzu jedoch keine einheitliche statistische Definition, sodass uns keine entsprechenden Zahlen vorliegen. Um es ganz deutlich zu sagen: Meine Kolleginnen und Kollegen arbeiten täglich daran, den existenziellen Lebensunterhalt für viele Kundinnen und Kunden zu sichern. Es ist ganz gewiss nicht in unserem Interesse, Notlagen herbeizuführen.
Wir wünschen uns daher eine pragmatische Lösung: Bei fehlender Mitwirkung sollte die Leistung durch das Jobcenter kurzfristig pausiert werden können. Sobald sich die betroffene Person daraufhin im Jobcenter meldet und den Mitwirkungspflichten nachkommt, würde die Zahlung sofort wieder aufgenommen – auch rückwirkend. Das ist gerade der Unterschied zwischen einer Sanktion und einem vorläufigen Leistungsentzug.
Was für Gründe stecken erfahrungsgemäß dahinter, wenn jemand nicht auftaucht?
Das können ganz vielfältige Gründe sein, neben Fragen der Motivation sind es auch körperliche oder psychische Erkrankungen. Wenn sich jemand gar nicht mehr meldet und wir den begründeten Verdacht haben, dass die Person nicht mehr an der angegebenen Adresse wohnt, können wir auch jetzt schon die Leistungen vorübergehend einstellen. Denn die Mitteilung der aktuellen Anschrift zur Erreichbarkeit ist eine gesetzliche Mitwirkungspflicht der Kundinnen und Kunden.
Eine Härtefallregelung soll sicherstellen, dass die harte Komplettsanktion nicht zum Beispiel psychisch Kranke trifft. Wie gut lässt sich in der Praxis differenzieren, damit die Regel die Richtigen trifft?
Eine vollständige Minderung kann es ja nur geben, wenn die Kundin oder der Kunde sich der Zusammenarbeit komplett verweigert, es also überhaupt keinen Kontakt mehr gibt. Ein Mindestmaß an Mitarbeit seitens der Betroffenen müssen wir einfach einfordern. Aber auch hier wäre unser pragmatischer Ansatz des vorübergehenden Leistungsentzugs hilfreich. Dann könnten wir die Zahlungen sofort wieder aufnehmen, sobald sich die Betroffenen bei uns melden.
Die Frage, wer überhaupt erwerbsfähig ist, soll „realitätsnäher“ definiert werden. Das soll verhindern, dass viele Menschen im Bürgergeld-System festhängen, bei denen de facto klar ist, dass sie nicht für sich selbst sorgen können, etwa wegen psychischer Erkrankungen. Wie verbreitet ist dieses Problem?
Die Definition von „Erwerbsfähigkeit“ ist ein ganz wichtiger Punkt. Nach heutigem Stand gilt als erwerbsfähig, wer drei Stunden täglich arbeiten kann. Diese drei Stunden müssen nicht einmal am Stück sein. Solche Arbeitsplätze gibt es im deutschen Arbeitsmarkt, in dem überwiegend Fachkräfte gesucht werden, praktisch nicht. Hier benötigen wir eine alltagstaugliche Definition. Menschen mit starken körperlichen oder psychischen Problemen, die nur so eingeschränkt arbeiten können, gehören nicht in das System der Grundsicherung für erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Für sie ist die bestehende Grundsicherung bei Erwerbsunfähigkeit ohne Arbeitsvermittlung sinnvoller.
Auch für Menschen, die ein Jobangebot ablehnen, sollen die Regeln deutlich härter werden, bis hin zur Streichung aller Geldleistungen. Ist das ein Instrument, mit dem Ihre Mitarbeiter mehr bewirken können als bisher?
Dass Menschen ein Jobangebot ablehnen, kommt ja in der Praxis kaum vor. Unser Problem sind eher Meldeversäumnisse, also dass die Kundin oder der Kunde ohne wichtigen Grund Gesprächstermine versäumt. Deswegen begrüßen wir alle Änderungen, welche die Verbindlichkeit im gegenseitigen Handeln zwischen Kundinnen und Kunden sowie dem Jobcenter stärken.
Haben Sie dafür Beispiele?
Erstens: Im Kooperationsplan vereinbaren wir im Beratungsgespräch mit unseren Kundinnen und Kunden die gegenseitigen Rechte und Pflichten. Darauf müssen sich beide Seiten verlassen können, daher begrüßen wir es, wenn dieser Kooperationsplan zukünftig mehr Verbindlichkeit erhält. Zweitens: Es ist essenziell wichtig, dass die Kundinnen und Kunden die Beratungstermine, zu denen wir sie einladen, wahrnehmen, damit wir sie optimal und individuell unterstützen können. Wir haben ein großes Portfolio an Unterstützungsmöglichkeiten, aber das können wir nur anwenden, wenn die Menschen mit uns zusammenarbeiten. Insofern begrüßen wir alle Änderungen, die Verbindlichkeit stärken und dazu beitragen, dass auch die Kundinnen und Kunden, die sich bisher entziehen, wieder zur Beratung ins Jobcenter kommen.
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Was, wenn in einem Haushalt auch Kinder leben und plötzlich ganz viel Geld fehlt: Geht Schwarz-Rot hier mit Blick auf die Lebensrealität der Betroffenen nicht zu weit?
Für uns ist ganz klar, dass wir in unserem täglichen Handeln eine Gefährdung des Kindeswohls wie auch drohende Wohnungslosigkeit vermeiden müssen. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Gesetzgeber dies im Blick behalten wird.
Es soll im Gesetz klargestellt werden, dass von alleinstehenden Leistungsberechtigen erwartet wird, in Vollzeit zu arbeiten. Ist es häufig der Fall, dass Alleinstehende lieber nur ein paar Stunden arbeiten und ansonsten aufstocken?
Jeder Kunde und jede Kundin der Jobcenter hat individuelle Gründe für die Hilfebedürftigkeit. Und nur wer seine Hilfebedürftigkeit mit Kontoauszügen und dergleichen nachweisen kann, hat ja überhaupt Anspruch auf Grundsicherungsleistungen. Solche Klischees haben mit unserem Alltag sehr wenig zu tun.
Der Vermittlungsvorrang kommt zurück. Das bedeutet, dass die Aufnahme eines Jobs, auch wenn der wenig Perspektive bietet, im Zweifel wichtiger ist als zum Beispiel eine Umschulung. Das Jobcenter kann aber auch entscheiden, dass Qualifizierung vorgeht. Was halten Sie vom Vermittlungsvorrang, der der Union so wichtig war?
Man muss auch hier jeden Fall individuell betrachten. Was hilft dem Menschen am meisten, um eine Chance auf eine dauerhafte, möglichst sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu erhalten? Ein großer Teil unserer Kundinnen und Kunden hat keine Ausbildung und keinen Abschluss. Der deutsche Arbeitsmarkt sucht Arbeitskräfte, aber überwiegend Fachkräfte. Wenn wir mit einer Qualifizierung die Menschen zu Fachkräften ausbilden können, ist das für beide Seiten der richtige Weg. Aber auch die Anerkennungsverfahren für Geflüchtete müssen schneller werden. Wenn ich eine ausländische Fachkraft in einen Hilfsjob vermitteln muss, weil vielleicht eine Anerkennung oder noch eine letzte Qualifizierung fehlt, wäre das für unseren Arbeitsmarkt der falsche Weg.
Die Qualifizierung unserer Kundinnen und Kunden bleibt ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit im Jobcenter. Und der Erfolg gibt uns recht: Eine Untersuchung des Immigration Policy Lab, die gerade vorgestellt wurde, hat den großen Erfolg des Projekts „Job-Turbo“ hervorgehoben. Er verzahnt Qualifizierung, Spracherwerb und Vermittlung in Arbeit miteinander. Es konnten 102.000 zusätzliche Arbeitsaufnahmen erreicht werden, darunter 58.000 ukrainische Geflüchtete und 44.000 Geflüchtete anderer Herkunft. Der überwiegende Teil dieser Beschäftigungen ist sozialversicherungspflichtig und dauerhaft.
Wer ein Kind unter drei Jahren zu betreuen hat, für den besteht keine Pflicht zur Arbeit. Nun sollen aber zumindest Beratung und die Teilnahme an Integrationsmaßnahmen verpflichtend werden. Wie oft führen die drei Jahre Kinderpause dazu, dass der Anschluss an den Arbeitsmarkt verloren geht?
Hamburg verfügt im Bundesvergleich über eine gute Kinderbetreuung. Gerade deshalb beraten wir auch jetzt schon Kundinnen und Kunden in Elternzeit, um Unterbrechungen in der Erwerbsbiografie zu begrenzen. Wir sind fest davon überzeugt, dass junge Mütter und Väter arbeiten wollen, wenn die individuellen Rahmenbedingungen es zulassen. Das ist auch zwingend notwendig, denn der Arbeitsmarkt wird aufgrund der demografischen Entwicklung alle Erwerbspotenziale ausschöpfen müssen.
„Das Bürgergeld ist jetzt Geschichte“, sagt Markus Söder. Sehen Sie das auch so?
Ich sehe hier eher eine Weiterentwicklung, die hoffentlich für eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz sorgt. Viele Ansätze des Bürgergeld-Gesetzes waren richtig und wichtig. Und die Grundsicherung für hilfebedürftige Menschen bleibt ja bestehen. Das ist verfassungsrechtlich garantiert: Wer mitwirkt und seine Pflichten erfüllt, hat auch keine Minderungen zu befürchten. Meine Kolleginnen und Kollegen unterstützen Menschen mit konkreter Beratung und Förderangeboten und würden sich freuen, wenn dieser Einsatz gesellschaftlich insgesamt mehr Anerkennung findet.
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