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Flüchtlingslager Moria auf Lesbos.

© imago images/ANE Edition

Update

Deutschland macht wegen Coronavirus dicht: Viele Geflüchtete dürfen keinen Asylantrag mehr stellen

Dramatische Lage im Lager Moria auf Lesbos - und nicht nur dort. Die humanitären Aufnahmeverfahren von Flüchtlingen werden trotzdem ausgesetzt.

Von Matthias Meisner

Eigentlich könnte alles demnächst gleich losgehen. 55.000 Euro hat der in Dresden gegründete Verein Mission Lifeline zusammengebracht, um Geflüchtete auf eigene Faust von der griechischen Insel Lesbos zu retten. Ein Flugzeug mit rund 100 Sitzplätzen soll gechartert werden, vornehmlich für unbegleitete Kinder. Schon ein paar Tage nach dem Aufruf waren genug Spendengelder eingegangen.

Seit einer Woche ist ein Erkundungsteam vor Ort und koordiniert mit lokalen Hilfsorganisationen, wer in den Flieger steigen könnte. Es gibt eine Liste. Und konkret soll es so laufen, dass die Menschen, die noch nichts davon wissen, dass sie darauf stehen, aus dem Lager Moria in eine andere Unterkunft geholt werden. Das vor allem deshalb, um Streitigkeiten im Camp zu verhindern, wie der Sprecher von Mission Lifeline, Axel Steier, dem Tagesspiegel berichtet. Bisher gibt es im Lager Moria auf Lesbos keinen einzigen bestätigten Corona-Fall. Noch nicht - obwohl in und um das Lager mehr als 20.000 Menschen hausen.

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Nur: Es geht nicht los mit dem Evakuierungsflug. Das liegt zum einen daran, dass Mission Lifeline immer noch keine Landeerlaubnis dafür hat. Weder für Berlin noch für eine andere deutsche Stadt. Und zum anderen, weil seit Dienstagabend fraglich ist, ob Flüchtlinge überhaupt noch zu den privilegierten Personengruppen gehören, denen in Zeiten der Corona-Krise eine Einreise nach Deutschland erlaubt wird.

Ist Asyl ein „dringender Einreisegrund“?

Am Dienstagabend hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) weitreichende Beschränkungen im internationalen Luft- und Seeverkehr angeordnet. Nach Deutschland einreisen dürfen grundsätzlich nur noch Deutsche. „Staatsangehörigen von EU-Staaten sowie deren Familienangehörigen und Staatsangehörigen aus Großbritannien, Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz sowie deren Familienangehörigen wird die Einreise zum Zwecke der Durchreise in den Heimatstaat gestattet“, erklärt das Ministerium.

Drittstaatsangehörige brauchen entweder einen Aufenthaltstitel oder ein längerfristiges Visum. Haben sie das nicht, werden sie an der Grenze zurückgewiesen, „wenn kein dringender Einreisegrund vorliegt“. Die Frage ist nun: Ist Asyl ein „dringender Einreisegrund“ im Sinne dieser Anordnung?

Humanitäre Aufnahme von Flüchtlingen ausgesetzt

Am Mittwoch erklärte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums, faktisch seien die deutschen humanitären Aufnahmeverfahren wegen verschiedener Reisebeschränkungen und operativer Einschränkungen bereits seit vergangenen Freitag zum Erliegen gekommen. Ausgesetzt sind nach Angaben des Ministeriums aber auch andere Resettlement-Verfahren, über die besonders schutzbedürftige Flüchtlinge direkt etwa aus Flüchtlingslagern in die Bundesrepublik geholt werden.

Das Resettlement-Programm läuft in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Schwerpunkt ist die Umsiedlung von Menschen unter anderem aus Flüchtlingslagern in Krisenregionen wie Syrien oder Sudan. Für dieses Jahr hatte die Bundesregierung 5500 Plätze zugesagt.

Allerdings soll die Corona-Pandemie keine Auswirkung auf die Bemühungen haben, minderjährige Flüchtlinge von den griechischen Inseln in andere EU-Staaten zu verteilen, wie ein Sprecher des Bundesinnenministeriums versicherte.

UNHCR spricht von Verzögerungen beim Asylverfahren

Die UN-Flüchtlingsorganisation äußerte Vorbehalte gegen die Pläne. Die Corona-Krise und die drastischen Maßnahmen zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des Virus könnten „natürlich auch auf das Asylsystem nicht ohne Auswirkungen bleiben“, sagte der Sprecher des UNHCR Deutschland, Chris Melzer, dem Tagesspiegel. „Für Schutzsuchende bedeutet das Verzögerungen, aber normalerweise keine Versagung des Rechts auf ein faires Asylverfahren.“ Welche Maßnahmen im Einzelnen getroffen werden und wie sie in der Praxis handhabbar seien, müsse sich erst noch zeigen.

Melzer sagte weiter: „Dass wegen der Pandemie die humanitäre Programme wie auch die Härtefallaufnahme vorübergehend ausgesetzt werden, ist für die betroffenen Menschen ein großes Problem, weil sie noch länger unter unzumutbaren Umständen ausharren müssen.“ Die Pandemie sei „ein großer Ausnahmefall“. Die Programme sollten so schnell wie möglich wieder aufgenommen werden - zusammen mit Staaten wie Deutschland, Frankreich, Kanada, den USA und vielen anderen. „Leider nicht genügend“, wie der Sprecher hinzufügte.

Corona-Test oder 14-tägige Quarantäne

Zuvor hatte die die „taz“ berichtet, dass seit Dienstag in Deutschland das Recht eingeschränkt ist, einen Asylantrag zu stellen. Schutzsuchende dürfen das nur noch dann, wenn sie negativ auf das Virus getestet wurden oder eine 14-tägige Quarantäne nachweisen können, sagte ein Sprecher des Seehofer-Ministeriums der Zeitung. Das Gleiche gelte für Anhörungen im Asylverfahren.

„Willkürliche Aussetzung von Grundrechten“

Maximilian Pichl, Rechts- und Politikwissenschaftler an den Universitäten Kassel und Frankfurt am Main, warnt: „Die Corona-Pandemie ist eine beispiellose Herausforderung, die aber keine willkürliche Aussetzung von Grund- und Menschenrechten zulässt. Weder die EU noch Deutschland können das Asylrecht außer Kraft setzen.“

Der Schengener Grenzkodex, auf den sich das Bundesinnenministerium bei Einreisekontrollen stützt, lasse die Bestimmungen zum Asylrecht und zum internationalen Schutz ausdrücklich unberührt. „Das bedeutet, Asylgesuche müssen weiterhin aufgenommen werden.“ Auch das Infektionsschutzgesetz, das nur im Inland Anwendung finde, sehe keine Ausnahme vom Asylrecht vor. Pichl im Gespräch mit dem Tagesspiegel weiter: „Inwiefern die Behörden und Gerichte in der jetzigen Situation aber Asylverfahren faktisch durchführen, ist eine ganz andere Sache. Viele Verfahren werden vermutlich verschoben und später weiter bearbeitet.“

Pro Asyl: EU-Grenzen bereits jetzt menschenrechtsfreie Zonen

Karl Kopp, Leiter der Europa-Abteilung der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, sagt, die EU-Außengrenzen seien „bereits jetzt menschenrechtsfreie Zonen“ - auch schon vor der Corona-Pandemie. Die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Genfer Flüchtlingskonvention verpflichten die EU-Staaten, Asylsuchende vor Zurückweisung zu schützen. Auch Corona setze den Artikel drei der EMRK nicht außer Kraft, der Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung verbietet - „bitter genug, dass wir dies betonen müssen“.

Ferda Ataman, Sprecherin des post-migrantischen Netzwerkes Neue deutsche Organisationen, sagt: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschenrechte in einer Krisenzeit hintenan gestellt werden. Menschen in lebensbedrohlichen Lagen auszugrenzen, nur um sich selbst zu schützen, das ist mittelalterlich.“ Deutschland habe erst vor eineinhalb Jahren den UN-Flüchtlingspakt unterzeichnet: „Deswegen gehe ich fest davon aus, dass Flucht vor Bürgerkrieg und anderen Katastrophen als ,dringender Einreisegrund' zählt.“

Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein warnte davor, Gesundheit und Menschenrechte gegeneinander auszuspielen. Er erklärte auf Twitter: „Aussetzung humanitärer Aufnahmen und des Asylrechts und Grenzschließungen - die Abschottung dient nicht der Gesundheit, es sind nationalistische Scheinlösungen.“

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Die stellvertretende Grünen-Bundesvorsitzende Jamila Schäfer appelliert, dass überfüllte Lager wie das auf Lesbos evakuiert werden. Sie sagte dem Tagesspiegel: „Wenn Menschen internationalen Schutz beantragen, braucht man dafür ein geordnetes Verfahren. Gerade in Zeiten von Corona ist es wichtig, dafür klare Rahmenbedingungen zu schaffen und Chaos zu vermeiden.“

Das bedeute auch, überfüllte Flüchtlingslager zu evakuieren und notwendige Quarantäne- und Schutzmaßnahmen vor Corona umzusetzen, um eine exponentielle Ausbreitung des Virus zu verhindern. „Es ist absurd, wenn wir einerseits Social Distancing und Händewaschen empfehlen und andererseits in Moria auf Lesbos 25.000 Menschen in ein Camp zusammenpferchen, wo es kaum fließend Wasser und vernünftige Quarantäne-Möglichkeiten gibt.“

Linke: In den griechischen Lagern sterben die Kinder

Ähnlich äußerte sich die Linken-Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut. Sie forderte vor dem Hintergrund der Schließung der EU-Außengrenzen, der Staatenbund dürfe die Flüchtlinge an den Grenzen und in den griechischen Lagern nicht im Stich zu lassen. „In den griechischen Lagern sterben Kinder, die Corona-Pandemie wird dort die Schwächsten treffen“, erklärte Akbulut. Keiner vor Ort werde eine Chance haben, sich vor dem Virus zu schützen, „weil die EU sie ohnehin schon im Stich gelassen hat“.

Mission-Lifeline-Sprecher Steier gibt zu: „Ohne Zweifel haben wir gerade eine gewisse Ausnahmesituation in Deutschland.“ Aber: „Das rechtfertigt nicht, das ohnehin ausgehöhlte Asylrecht zu schleifen.“ Es komme jetzt darauf an, solidarisch mit Menschen in Not überall zu bleiben. „Die aktuelle Situation in Deutschland gibt es leider her, dass sich nationalistische Tendenzen durchsetzen könnten. Das wäre auch das Anfang vom Ende für unsere offene Gesellschaft, für unsere eigenen Rechte.“

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