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Durch Impfungen könnten Grundrechte zurückkehren. Doch die Verhandlungen innerhalb der EU ziehen sich.

© Karl-Josef Hildenbrand/dpa

EU und Bundesregierung prallen aufeinander: Daran drohen schnelle Grundrechte für Geimpfte zu scheitern

Die Bundesregierung und die EU wollen Grundrechte für Corona-Immunisierte wiederherstellen. Längst ist klar: Die Pläne sind nur schwer zusammenzubringen.

Mit der fortschreitenden Impfkampagne wachsen die Hoffnungen vieler EU-Bürger, im Sommer trotz der Corona-Pandemie wieder ihre derzeit massiv eingeschränkten Grundrechte wahrnehmen zu können – und damit auch wieder die Freizügigkeit innerhalb der Union.

In den kommenden Wochen wird Brüssel intensiv mit den Mitgliedsstaaten über dieses Ziel verhandeln, gleichzeitig haben Bund und Länder dazu gestern ihre Eckpunkte festgezurrt. Und es zeichnet sich ab: Je konkreter die Vorstellungen auf nationaler und auf Brüsseler Ebene werden, desto schwieriger ist es, die formulierten Ziele im Einklang umzusetzen. 

Noch ist daher völlig offen, ob das vom EU-Parlament morgen den Mitgliedsstaaten zu präsentierende Modell eines „Grünen Passes“ wirklich wie geplant im Juni kommt. Auf der anderen Seite droht in Deutschland eine zeitweilige Benachteiligung großer Bevölkerungsteile, die den gesellschaftlichen Frieden extrem gefährden könnte.

Sollten alle Vorschläge, die gestern kursierten, umgesetzt werden, könnten im Extremfall – nur als Beispiel – internationale Touristen im Sommer Deutschland genießen, während Einheimische immer noch der Ausgangssperre unterliegen. 

Negativtest weniger wert als Impfung

Über das Ziel, möglichst vielen Menschen die Ausübung ihrer Grundrechte zu ermöglichen, besteht kein Dissens, weder in Berlin noch in Brüssel. Auf Ebene der EU wird darüber unter dem Stichwort des „Grünen Zertifikats“ oder eben auch des „Grünen Passes“ verhandelt. Dieser Pass soll es ermöglichen, bei Immunität gegen SARS-CoV-2 oder bei einem negativen Testergebnis Ländergrenzen innerhalb des Schengenraumes wieder ungehindert überqueren zu können.

Die EU-Staaten gaben der Kommission im Januar den Auftrag für einen digitalen Impfnachweis, wenig später legte die Kommission einen Verordnungsentwurf für ein Zertifikat vor. Gestern nun präsentierten EU-Parlamentarier des Innenausschusses ihren abgestimmten Vorschlag, der nun wiederum mit den Mitgliedsstaaten zu verhandeln ist. Und dafür bleibt nur wenig Zeit, da das Zertifikat bis Ende Juni – zu Beginn der europäischen Ferienzeit – barrierefreies Reisen ermöglichen soll. 

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Doch mit Blick auf das größte EU-Mitglied, Deutschland, zeichnete sich bei den ebenfalls gestern abgehaltenen Bund-Länder-Gesprächen zum Thema ab, dass es schon bei grundsätzlichen Definitionsfragen zu scheitern droht. Denn anders als das EU-Parlament will die Bundesregierung zwar auch Grundrechte für Geimpfte und Genesene – aber offenbar nicht für Menschen mit negativ ausgefallenem Test.

Das jedenfalls geht aus den Eckpunkten der Bundesregierung hervor, die im Verlauf des Sonntags diesbezüglich offenbar nochmal nachgeschärft wurden. „Weil von negativ Getesteten im Vergleich zu Geimpften und Genesenen ein höheres Risiko ausgeht, andere Menschen anzustecken“, heißt es nun dort, „und sie selbst keine Immunität als Schutz vor Ansteckung aufweisen, kann es notwendig sein, dass Geimpfte und Genesene bessergestellt werden als durch einen Antigentest negativ Getestete.“

Die Eckpunkte sind Grundlage für weitere Diskussionen mit den Ländern, im Laufe des Mai soll dann die Verordnung auf den Weg gebracht werden.

Ausnahmen von Ausgangssperren

Als durch Impfung immunisiert sollen nach den Vorstellungen der Bundesregierung all jene gelten, denen ein in der EU zugelassener Impfstoff verabreicht wurde und deren letzte Impfung mindestens zwei Wochen zurückliegt. Für den Nachweis einer Immunität durch vorangegangene Infektion wäre ein mindestens vier Wochen alter PCR-Test nötig, die Genesung dürfte gleichzeitig nicht länger als ein halbes Jahr zurückliegen.

Geimpfte und Genesene sollen grundsätzlich die gleichen Rechte bekommen wie sie negativ Getestete bei der derzeit geltenden Corona-Notbremse haben. Zum Beispiel in Geschäften und bei Frisören, aber auch beim Reisen. 

So weit, so unproblematisch. Politischen Sprengstoff allerdings birgt diese Regelung: „Für den Bereich von Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sollen ebenfalls Ausnahmen für Geimpfte und Genesene vorgesehen werden“, heißt es in den Eckpunkten. Faktisch hieße dies, dass mit Inkrafttreten der Regelung Geimpfte von den nächtlichen Ausgangssperren und den Besuchsregelungen ausgenommen wären.

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Es ist ein Szenario, in das die Bundesregierung mit der Aufnahme der Ausgangssperren in das Notbremsengesetz sehenden Auges lief und das nun in den Sommermonaten im Straßenbild zu spüren sein dürfte.

Spätestens im Juni nämlich wird ein signifikanter Teil der Bevölkerung beide (oder im Fall der gerade anlaufenden Johnson & Johnson-Impfungen die ausreichende, einfache) Corona-Impfung erhalten haben. Gerade in Wahlkampfzeiten wird dies aller Voraussicht nach den Druck erhöhen, die Ausgangssperren wieder abzuschaffen.

Vertrauensverlust befürchtet

Der geplanten Verordnung muss der Bundestag zustimmen, die Grundlagen dafür legte das vergangene Woche beschlossene Notbremsengesetz. Und keineswegs stehen die Pläne quer zu jenen der EU, vielmehr bauen sie aufeinander auf. Trotzdem drohen es harte Verhandlungen mit dem EU-Parlament zu werden, deren Ende keineswegs ausgemacht ist.

Denn das machten die EU-Parlamentarier gestern deutlich: Sie wollen eine europäisch harmonisierte Lösung, eine, die allen EU-Bürgern die gleichen Rechte einräumt und nationale Alleingänge verhindert. Und das, so die Erfahrung seit März vergangenen Jahres, war bisher keine Stärke der EU-Mitgliedsstaaten im Laufe der Pandemie.

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„Es ist höchste Zeit, dass die nationalen Regierungen endlich ihre Verantwortung für ihre Bürger wahrnehmen“, sagte gestern die EU-Parlamentarierin Sophia in’t Veld von der liberal-zentristischen Renew-Fraktion.

Was immer der „Trilog“ mit den Mitgliedsstaaten und der Kommission ergäbe, so die Niederländerin, es dürfe nicht erneut zu einem „Patchwork“ an Grenz- und Reiseregelungen auf Nationalstaatsebene führen. Ebenso äußerten sich auch die Parlamentarier der anderen großen Fraktionen, deren Vorschlag morgen im EU-Parlament besprochen wird, bevor er dann in die Trilog-Verhandlungen geht. 

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Das faktische Ende der Freizügigkeit durch die Pandemie sei „eine größere Katastrophe, als alles, was wir bis dahin in der EU gesehen haben“, sagte der Vorsitzende des Innenausschusses, Juan Fernando López Aguilar. Bei der Aufrechterhaltung eines Flickenteppichs an nationalen Einreise- und Grenzbestimmungen, so der Sozialdemokrat, drohe aus der „Pandemie- eine EU-Müdigkeit zu werden“.

Wenn sich Bürger nicht darauf verlassen könnten, mit einem Grünen Zertifikat auch wirklich frei reisen zu dürfen, wäre dies für den gesamten Wirtschaftsraum im Sommer zudem ein zusätzlicher enormer wirtschaftlicher Schaden. Tourismus mache etwa ein Zehntel des EU-BIPs aus, so der von den kanarischen Inseln stammende López Aguliar.

Komplexe Szenarien zu verhandeln

Er hoffe, sagte der Ausschussvorsitzende, dass man sich schnell mit den Mitgliedsstaaten einigen könne, um im Juni dann die Verhandlungen abzuschließen. Doch echte Zuversicht klang gestern aus den Wortmeldungen der verschiedenen Fraktionen nicht heraus. Immer wieder war dafür der Appell zu hören, dass die EU-Staaten ihre Einreiseregelungen harmonisieren sollten.

Betroffen davon seien aber nicht die Rechte der einzelnen Länder, regionale Corona-Restriktionen zu erlassen, wie immer wieder betont wurde. Dies müsste dann aber diskriminierungsfrei geschehen.

[Mehr zum Thema: Der Weg zum Impftermin in Berlin: Ich möchte mich impfen lassen – was kann ich tun? (T+)]

Sprich: Inhaber eines Grünen Zertifikats hätten in Deutschland Grundrechte, während sie Nichtgeimpfte hierzulande nicht hätten. Womit man bei den hypothetisch möglichen Touristen in Deutschland wäre und den einheimischen Ungeimpften, die dem Treiben nicht einmal zuschauen könnten, weil sie schlimmstenfalls noch einer Ausgangssperre unterliegen. 

Sollte es in Deutschland außerdem dazu kommen, dass negativ Getestete nicht genauso behandelt werden wie Geimpfte, gleichzeitig das Grüne Zertifikat an dieser Stelle aber keinen Unterschied machen, würde dies für noch viel mehr denkbare – und für den gesellschaftlichen Frieden wahrscheinlich hochproblematische – Szenarien sorgen.

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Das zeigt, welch komplexe Verhandlungen in den kommenden Wochen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten, der Kommission und dem EU-Parlament bevorstehen. So gibt es auch noch jene Staaten, in denen zum Beispiel russische oder chinesische Impfstoffe verwendet werden, die von der EMA nicht zugelassen sind: Auch diese Menschen hätten kein Anrecht auf einen Grünen Pass, und wahrscheinlich auch erst einmal keine Option, sich mit einer zugelassenen Impfung immunisieren zu lassen. Ungarn etwa dürfte daher mit noch größerer Skepsis als ohnehin schon immer auf die Ideen aus Brüssel schauen.

Kostenlose Tests gefordert

Großen Diskussionsbedarf dürfte es auch bei einem anderen zentralen Punkt geben, den das EU-Parlament durchbringen will: den diskriminierungsfreien Zugang zu SARS-CoV-2-Tests. In manchen EU-Staaten – als vorbildhaft wurde hier etwa Deutschland genannt – seien Tests kostenlos verfügbar, in manchen aber nur für sehr viel Geld. Teilweise, etwa in Finnland, habe dies fast schon „prohibitiven“ Charakter, sagte Ausschuss-Chef López Aguilar.

Das EU-Parlament fordert daher nun, die Tests kostenlos verfügbar zu machen, um sie allen EU-Bürgern zu ermöglichen. Schließlich gehe es dabei nicht nur um die Ermöglichung von Tourismus, sondern auch um Pendler im Grenzverkehr, sagte Sophia in’t Veld: Für viele von ihnen sei es inzwischen unmöglich, ihre eigenen Familien zu sehen, da sie die dafür nötigen Tests nicht finanzieren könnten. 

Der bevorstehende Abstimmungsbedarf zwischen den EU-Staaten und dem Parlament dürfte riesig sein, die Hürden groß für harmonisierte Regelungen, die den nationalen Prämissen bei der Pandemiebekämpfung nicht zuwiderlaufen. Schließlich eignen sich Einreiseprivilegien für Geimpfte auch durchaus als Instrument des touristischen Marketings: Zypern kündigte gestern etwa an, vom 10. Mai an geimpfte Menschen aus 65 Ländern einreisen zu lassen.

Etwas leichter als die innereuropäische Abstimmung dürften der Kommission auch Übereinkünfte der gesamten EU mit anderen Staaten fallen. So hieß es gestern aus Brüssel, dass man für geimpfte US-Bürger „bedingungslos“ die bislang geltenden und vor einem Jahr eingeführten Einreisebeschränkungen lockern möchte.

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