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Debatte übers Stadtbild: Schon wieder sind alle in ihren ideologischen Lagern
Der eine, Kanzler Friedrich Merz, springt zu kurz. Die anderen verharren in Reflexen. Das hilft am Ende nur einer Kraft.

Stand:
Die „Stadtbild-Debatte“ ist auf den ersten Blick vor allem eines: ein typischer Merz. Der Bundeskanzler hat ein Thema gewittert, das im Wortsinn auf der Straße liegt. Denn natürlich gibt es dieses Gefühl, in bestimmten Gegenden nicht mehr sicher zu sein. Dieses Gefühl, dass sich im Erscheinungsbild auf unseren Straßen etwas verändert hat.
Dieses Gefühl ist Teil einer politischen Realität. Und dass Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) das artikuliert, ist völlig richtig. Problematisch ist, dass er stehen bleibt in seiner verkürzten Formulierung, die automatisch als Pauschalisierung wahrgenommen wird und damit auch Menschen trifft, die Merz nicht meint. Gibt es ein Kriminalitätsproblem mit Migranten? Ja! Haben wir nur Kriminalitätsprobleme durch Migranten? Nein! Und was kann man dagegen tun? Keine Antwort.
Die Debatte allerdings ist mittlerweile weit mehr als ein typischer Merz. Die Reaktionen auf seine Äußerungen sind ein reflexhaftes Abwehrverhalten – im linken Lager, aber auch bei den innerparteilichen Oppositionellen, allen voran Berlins Regierendem Bürgermeister Kai Wegner. Der hat sich dazu verstiegen, dass das Problem mit dem Müll größer sei. Mag sein. Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun? Und das Müllproblem hat er selbst in der Hand.
Die Linke ruft reflexhaft laut „Rassismus“
Statt einmal nachzudenken, ob Merz bei aller Verkürzung nicht einen Punkt getroffen hat, wird sofort und laut „Rassismus“ gerufen wie von Linken-Chefin Heidi Reichinnek. Oder zu Demonstrationen vor der CDU-Zentrale aufgerufen wie von Luisa Neubauer. „Wir sind das Stadtbild“, steht auf den Plakaten der Demonstrantinnen. Ja, auch. Aber wo bleibt die Auseinandersetzung mit dem Problem?
Dabei ist es fatal, Wahrnehmungen, die nicht dem eigenen Weltbild entsprechen, einfach zu negieren oder zu ignorieren. Selbstverständlich hat sich das Stadtbild vielerorts verändert. Manchmal ist es einfach bunter und vielfältiger geworden, Integration wird wirklich gelebt.
Beides muss sein: die Chancen der Einwanderung sehen, erkennen und fördern. Und gleichzeitig die Probleme, die es im Zusammenhang mit Migration gibt, unvoreingenommen und nüchtern benennen und angehen.
Christian Tretbar, Tagesspiegel-Chefredakteur
Gleichzeitig gibt es auch ein anderes Phänomen: eine Form der Gentrifizierung, die von manchen Menschen als Bedrohung wahrgenommen wird. Das kann man in Teilen von Neukölln beobachten, aber auch in kleineren deutschen Städten. Das können Bahnhofsvorplätze sein oder ganze Viertel.
Deutschland muss in der Migrationsdebatte erwachsen werden
Die Gründe dafür sind divers. Es ist ein Problem, dass Flüchtlinge und Migranten mit unklarem Aufenthaltsstatus nicht arbeiten dürfen. Sehr viele von ihnen werden trotzdem nicht zu Kriminellen, einige aber eben schon – und damit muss man umgehen. So wie es unter „Bio-Deutschen“ Kriminalität gibt, gibt es sie auch unter Migranten. Die Antworten darauf können teilweise ähnlich sein, manchmal aber auch unterschiedlich. Denn bei kriminellen Migranten ist Abschiebung ein virulentes Mittel.
Deutschland muss in der Debatte über Migration erwachsen werden. Das bedeutet, anzuerkennen, dass Deutschland im globalen Wettbewerb um wirtschaftlichen Erfolg, politischen Einfluss, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung ein Einwanderungsland sein wird. Sein muss. Und es sein sollte.
Doch um ein modernes Einwanderungsland sein zu können, müssen alle aus ihren ideologischen Ecken herauskommen. Beides muss sein: die Chancen der Einwanderung sehen, erkennen und fördern. Und gleichzeitig die Probleme, die es im Zusammenhang mit Migration gibt, unvoreingenommen und nüchtern benennen und angehen.
Aber was gerade passiert, ist eine weitere massive Polarisierung der Gesellschaft – für die Luisa Neubauer, Heidi Reichinnek stellvertretend für viele linke Strömungen genauso verantwortlich sind wie Friedrich Merz. Beide Seiten sollten sich lieber ernsthaft mit der Problematik auseinandersetzen, statt dem ersten Abwehrreflex nachzugeben, weiter zu verkürzen oder zu Demonstrationen aufzurufen, auf denen alles andere als Differenzierung stattfinden kann.
Diese ganze Gemengelage nutzt am Ende nur einer Partei: der AfD. Die sitzt lachend daneben, weil Linke wie Konservative nur ihren Teil der Geschichte sehen wollen – und damit eine echte Debatte verhindern.
Wer also ernsthaft den Aufstieg dieser mindestens in Teilen rechtsextremen Partei verhindern will, muss aufhören, Migrationsdebatten so zu führen, wie es Merz, Neubauer, Reichinnek und all ihre Follower gerade wieder tun.
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