Sechs Monate Krieg in der Ukraine: Demokratien sind resilienter, als Putin dachte
Entscheidend für den Erfolg ist die Fähigkeit, Fehler zu korrigieren. Das können Deutschland und seine Verbündeten besser als Russland. Ein Kommentar.
Zehntausende Tote und noch weit mehr Verwundete und traumatisierte Menschen. Darf man dennoch über ermutigende Lehren aus diesem furchtbaren Krieg sprechen?
Die Extremsituation hat die ganze Breite menschlichen Handelns offengelegt: bestialische Grausamkeiten, Hass und Ignoranz – doch ebenso, welche Kräfte der Überlebenswille freisetzt, dazu Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Lernfähigkeit.
Die Ukrainer haben nach dem russischen Angriff vor sechs Monaten eine unerwartete Widerstandskraft bewiesen. Die Deutschen und ihre Verbündeten in Europa, Amerika und Asien haben Wladimir Putin ebenfalls überrascht. Und sich selbst gleich mit.
Die These, der Westen sei dekadent, kursierte nicht nur im Kreml. Die Zweifel waren längst in die Mitte der Demokratien vorgedrungen: Sind die Werte, die sie beschwören, nur Lippenbekenntnisse? Sind sie bereit, Einschränkungen zu ertragen, um diese Werte zu verteidigen?
Ein doppelter Irrtum wird aufgedeckt
Ein halbes Jahr Krieg hat einen doppelten Irrtum aufgedeckt: Die Zivilgesellschaften sind resilienter, als Putin dachte – und resilienter, als sie selbst dachten.
Um zu verstehen, warum das so kommen konnte, muss man Wunden aufreißen, sprich: die fatalen Irrtümer der Russlandpolitik analysieren. Der systemische Vorteil der offenen Gesellschaft liegt nicht darin, dass sie weniger Fehler begeht als ein autoritäres Regime.
Sondern darin, dass sie Irrtümer wegen Kritik und Rechtfertigungsdruck in der Regel schneller zu korrigieren vermag. Die Diktatur hingegen bestraft Widerspruch, statt ihn als Anstoß zum Fortschritt zu begreifen.
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In Deutschland hatten große Mehrheiten länger als anderswo am Glauben festgehalten, Putins Russland werde schon keinen Krieg beginnen und verlässlich Gas liefern. Die Warnungen der Balten und Polen tat man als Russophobie ab, den US-Geheimdiensten begegnete man nach dem Irakkrieg und der NSA-Affäre mit größtem Misstrauen.
Warnungen vor "Winter der Wut" als nächste Fehleinschätzung?
Der nächste Irrtum: Die Ukraine werde russischer Übermacht nicht standhalten. Ein weiterer: Militär sei heutzutage nicht mehr so wichtig. Die Bundeswehr war blank, die entscheidende Waffenhilfe leisteten Amerikaner, Briten, Polen.
Werden sich bald auch die Warnungen vor einem „Winter der Wut“ und Volksaufständen – hoffentlich – als Irrtum erweisen? Laut einer Umfrage sind 46 Prozent der Bürger bereit, spürbare weitere finanzielle Belastungen hinzunehmen, damit die Sanktionen gegen Russland wirken.
Das sind erstaunlich viele. Denn auch das gehört zu den Lernerfahrungen: Es ist gar nicht so einfach, Sanktionen so zu konzipieren, dass sie dem Angreifer deutlich mehr schaden als der eigenen Wirtschaft. Deutschland hatte sich gefährlich verwundbar gemacht durch die hohe Abhängigkeit von russischer Energie.
Unter Schmerzen korrigiert es nun seine Fehleinschätzungen und Versäumnisse. Das gelingt, weil das Land Verbündete in Europa und der Welt hat, die dabei helfen.
Putins Bilanz ist miserabel
Für Putin ist die Bilanz miserabel. Er erreicht das Gegenteil dessen, was er anstrebt. Er wollte die Ukraine in eine russisch dominierte Wirtschaftsunion zwingen, die sich neben der EU behauptet, weitere Nato-Beitritte verhindern und der Welt zeigen, dass russische Energie unverzichtbar ist.
Mit dem Krieg hat er sich nahezu alle Ukrainer zu Feinden gemacht. Schweden und Finnland treten der Nato bei. Europa beschleunigt die Abkoppelung von russischer Energie. Wo bleibt seine Fähigkeit zur Korrektur?
Der Krieg und das Sterben werden nicht so bald enden. Die Ukraine wird sich aber mit westlicher Hilfe behaupten.
Die Lern- und Korrekturfähigkeit der Demokratien wird in den nächsten Jahren weiter getestet werden, durch China und andere. Sie dominieren den Globus nicht mehr so eindeutig wie vor 30 Jahren, als die Mauer fiel.
Ein klarer Blick für die Verwundbarkeit wird überlebenswichtig
Aber sie dürfen sich auch nicht kleiner machen, als sie sind. Gemeinsam bringen sie es immer noch auf mehr als die Hälfte der Weltwirtschaft.
Autoritäre Staaten kontrollieren freilich mehr als die Hälfte der Rohstoffe und Energiereserven. Da wird ein klarer Blick für die eigenen Stärken und Verwundbarkeiten überlebenswichtig.
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