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Politik: Der Anfang eines Beginns

Von Moritz Schuller

Nun passiert, was nie passieren sollte: Über Europa wird abgestimmt. Es ist ein wenig überraschend, dass dieses weltpolitisch angeblich so richtungsweisende Projekt gerade dann zur Wahl gestellt wird, wenn es um die Verfassung geht. Die hat kaum ein Europäer gelesen oder wird sie je lesen. Der Demokrat freut sich dennoch, ganz besonders, weil es bei diesen Abstimmungen um einen hohen Einsatz geht: Wer mit Nein stimmt, bringt das ganze Projekt zu Fall. Lehnt nämlich ein Land die durchaus umstrittene Verfassung ab, wird sie vermutlich nicht in Kraft treten. Und was dann passiert, weiß keiner. Dieses Europa, das Giscard d’Estaing als „Höhepunkt der Zivilisation“ bezeichnet hat, steht also möglicherweise kurz vor seinem Fall.

Es geht um etwas, auch für die Deutschen. Sie haben, da sie selbst nicht nach ihrer Meinung zur Verfassung gefragt werden, ihr Schicksal in andere Hände gelegt. Morgen findet in Spanien das erste von zehn Referenden statt, die übrigen folgen in der Tschechoslowakei, Dänemark, Frankreich, Irland, Luxemburg, den Niederlanden, Portugal, Polen und Großbritannien. Spanien gilt als EUfreundlich, das Land hat finanziell von der Union profitiert und identifiziert seinen Beitritt noch immer mit dem Ende der traumatischen Franco-Zeit. Als sicherer Ja-Kandidat soll Spanien einen verfassungsfreundlichen Sog entfalten, von dem Frankreich bei seinem Referendum, vermutlich im Mai, profitieren kann. Kurz vorher wird noch der Deutsche Bundestag die Verfassung ratifizieren, um dem französischen Oui, das noch lange nicht steht, einen weiteren Schub zu geben. In diesen ausgeklügelten Plänen der Regierungschefs, und auch in Gerhard Schröders Wahlkampfbesuch in Spanien, zeichnete sich so etwas wie europäische Innenpolitik ab.

Wer das Volk nicht fragt, misstraut ihm; wer es fragt, bekommt eine Antwort, aber selten auf die gestellte Frage. Auch die Verfassungsreferenden bieten nun die Möglichkeit einer Abrechnung mit der eigenen Regierung und EU-fremden Themen. Tony Blair veranstaltet sein Referendum, das er mit großer Wahrscheinlichkeit verlieren wird, erst 2006, nur ja weit weg von den Parlamentswahlen in diesem Frühjahr. Er hofft, dass bis dahin schon die Dänen oder die Franzosen mit Nein gestimmt haben werden.

Doch der Europaskeptiker könnte sich zu früh freuen: Bis auf Norwegen ist keine einzige Beitrittsabstimmung je gescheitert. Zudem erhöhen in manchen Mitgliedsländern die Volksbefragungen die Wahrscheinlichkeit der Zustimmung: Der Widerstand gegen die EU-Verfassung ist in den Parlamenten Polens und Tschechiens vermutlich weit größer als in der Bevölkerung.

Volksabstimmungen sind unberechenbar, auch darin liegt ihre Wahrhaftigkeit. Bei den zehn Referenden über die Verfassung ist angesichts der großen EU-Ignoranz, des großen EU-Desinteresses die Wahrscheinlichkeit groß, dass wenigstens eines scheitert. Vor allem wird die allen Voraussagen nach geringe Wahlbeteiligung deutlich machen, wie wenig verwurzelt das europäische Projekt noch immer in Europa ist. Angesichts dieser Unwägbarkeiten ist es erstaunlich, geradezu verantwortungslos, wie sehr Hoffen und Bangen einen Plan B ersetzt. Prognosen sehen so aus: Stimmen die Dänen mit Nein, würden sie vermutlich noch einmal abstimmen können. Stimmt Großbritannien mit Nein, würde es sich weiter aus der EU zurückziehen. Eine Ablehnung der Franzosen würde das Ende der Verfassung und damit einer verstärkten Integration der Union bedeuten.

Die „europäische Verfassung“, das klingt nach Überstaat – und ist kein Angebot, mit dem man Volksabstimmungen gewinnt. Das wahre Angebot, das offensichtlich bisher zu wenig genutzt wurde, ist die Volksabstimmung selbst. Die Zeiten, dass Europa als zu wichtig galt, um darüber abstimmen zu lassen, sind also vorbei. Es ist unwahrscheinlich, dass übermorgen wichtige europäische Entscheidungen, wie etwa der Beitritt der Türkei, anders als durch solche europäischen Volksbefragungen getroffen werden können. Das Referendum in Spanien ist also der Anfang vom Ende dieser EU – oder der Beginn einer etwas anderen Union.

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