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Gisèle Pelicot im Gerichtsgebäude von Avignon.

© dpa/CHRISTOPHE SIMON

Der Vergewaltigungsfall Gisèle Pelicot : In der toxischen Dunkelzone der digitalen Welt

Das Verfahren in Frankreich ist zu einem Tribunal darüber geworden, wie sich das Verhältnis zwischen Frauen und Männern zu ändern hat. Doch auch andere Deutungen sollten möglich bleiben.

Jost Müller-Neuhof
Eine Kolumne von Jost Müller-Neuhof

Stand:

Die Plädoyers sind gehalten, bald wird es im Fall Dominique Pelicot ein Urteil geben. Der Mann hatte seine Ehefrau über Jahre missbraucht, vergewaltigt und, von ihm betäubt, anderen Männern für sexuelle Handlungen preisgegeben. Er sagt: „Ich bin schuldig, ich habe alles verdorben, ich habe alles verloren. Ich muss dafür bezahlen.“

Es geht nicht nur um ihn in diesem Prozess. Mitangeklagt sind die Männer, die sich von Pelicot haben einladen lassen und sich an der bewusstlosen Frau vergingen. Männer aus allen Schichten der Gesellschaft. Mit normalen Berufen, einem bürgerlichen Leben, mit Ehefrauen, teils mit Enkeln.

Das Internet ermöglicht eine Addition menschlicher Abgründe, die es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben hat.

Jost Müller-Neuhof

Doch vor allem geht es um das Opfer. Gisèle Pelicot, die der Öffentlichkeit mit Härte gegen sich selbst ihre eigene Offenheit gegenüberstellte. Sie wollte, dass „die Scham die Seite wechselt“.

Das gelang, wenngleich klar war, wer neben dem Hauptangeklagten hier die Beschämten sind. Es sind die Männer, die mitgemacht haben und dem Gericht dafür ähnliche Einlassungen präsentierten: Sie hätten geglaubt, das exaltierte Liebesspiel eines älteren Paares würde auf ihre Teilnahme erstreckt.

Aus der Banalität dieser Erklärung sowie der Normalität ihrer bürgerlichen Abkunft wurde hochgerechnet auf Männer als solche. So wurde Gisèle Pélicot zur feministischen Avantgardistin und ihr Prozess zum Tribunal über das Patriarchat.

Ein Prozess als gesellschaftliche Projektionsfläche

Strafprozesse können zu gesellschaftlichen Projektionsflächen werden. Ihr eigentlicher Kern, die Beweisaufnahme vor Gericht, tritt dann in den Hintergrund.

So wurde in der allgemeinen Rezeption zur Randnotiz, dass Dominique Pelicot den Massenmissbrauch über eine kriminelle Web-Plattform organisierte, die in Frankreich mit tausenden Strafverfahren in Verbindung steht. Dort, im Chatkanal „à son insu“ (ohne ihr Wissen) traf er Männer, die sexuell ebenso fixiert sind wie er selbst.

Das Internet ermöglicht eine Addition menschlicher Abgründe, die es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben hat. Der Fall Pelicot ist ein monströses Beispiel dafür, das zudem belegt, wie hilflos der freiheitliche Rechtsstaat hier ist. Schließt er eine Plattform, öffnet die nächste.

Wie normal ist das? Und wie normal sind Männer, die es in diese digitalen Dunkelzonen zieht? Auch diese Fragen verdienen eine Erörterung, die den Respekt für Frau Pelicot und ihr Anliegen nicht schmälern darf.

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