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19 Jahre nach "Nine-Eleven" ragt das One World Trade Center in den Himmel von New York - an der Stelle, des World Trade Centers.

© Brendan McDermid/REUTERS

19. Jahrestag von „Nine-Eleven“: Der Wunsch nach Einheit

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 jähren sich zum 19. Mal. Die Geschichte des Gedenkens spiegelt die tiefe Spaltung der USA.

Das große Gedenken gibt es erst im kommenden Jahr. Und das ist, mit Blick auf dieses Katastrophenjahr, wohl auch ganz gut. Kurz nach dem Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September 2001 wird die offizielle Zahl der an den Folgen des Coronavirus gestorbenen Amerikaner die Marke von 200.000 erreichen.

Das renommierte Magazin „Time“ erscheint aus diesem traurigen Anlass das zweite Mal in seiner Geschichte mit einem schwarzen Balken auf dem Cover. Das erste Mal war nach „Nine-Eleven“.

Viele Amerikaner vergleichen die beiden Katastrophen miteinander. Gordon Felt, der vor 19 Jahren seinen älteren Bruder Edward Porter Felt verloren hat, findet das schwierig. Auch wenn er weiß, dass es für eine Familie egal ist, wie ein geliebter Angehöriger gestorben ist. „Aber es gibt doch einen Unterschied. Nine-Eleven ist einer dieser Tage in unserer Geschichte, wie Pearl Harbor, an denen eine gigantische Tragödie Helden geschaffen hat“, sagt der 56-Jährige.

Felts Bruder war einer der 40 Passagiere und Crewmitglieder, die vom New Yorker Flughafen Newark nach San Francisco fliegen wollten. Als ihre Maschine wie drei andere an diesem Tag von Al-Qaida-Terroristen entführt wurde und ihnen durch Handygespräche klar wurde, dass auch sie als fliegende Bombe nach Washington unterwegs waren, entschlossen sie sich, zu handeln: Sie griffen ihre Entführer an.

Donald Trump und Joe Biden reisen beide nach Pennsylvania

Um 10.03 Uhr stürzte die Boing 757 auf einen Acker nahe der kleinen Ortschaft Shanksville im Bundesstaat Pennsylvania. 15 Flugminuten später hätte die Maschine die Hauptstadt Washington erreicht – und vielleicht das Weiße Haus oder das Kapitol zerstört. Das haben die Passagiere von Flug 93 verhindert. An der Absturzstelle, die inzwischen ein Nationalpark ist, erinnert der von den Familien errichtete „Tower of Voices“ mit 40 Windspielen an die Opfer.

Hier, in den Bergen von Somerset County, treffen sich an diesem Freitag nicht nur die Angehörigen, auch US-Präsident Donald Trump und sein demokratischer Herausforderer Joe Biden werden erwartet. Weniger als zwei Monate vor der Wahl kommen sich die beiden Kontrahenten damit so nahe wie noch nie in diesem Wahlkampf - auch wenn Trump am Vormittag da sein wird und Biden am Nachmittag, für Abstand ist gesorgt.

Gordon Felt hofft sehr, dass von der Zeremonie, die auf Wunsch der Familien und mit Blick auf die Pandemie weitgehend abgeschirmt von der Öffentlichkeit stattfindet, trotz der Endphase des Wahlkampfs ein Zeichen des Friedens und der (überparteilichen) Einheit ausgeht.

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Bereits am Donnerstag trafen sich die Angehörigen, um die endgültige Fertigstellung des Glockenturms zu würdigen, der vor zwei Jahren eingeweiht worden war. Am Abend erleuchtete ein Lichtstrahl von der Absturzstelle den Himmel, so wie seit Jahren zwei Lichtsäulen in New York an das durch zwei Flugzeuge zerstörte World Trade Center erinnern - und in diesem Jahr erstrahlte auch eine Säule am Pentagon in Washington, wo die vierte Maschine abstürzte.

Die Namen der 40 Opfer werden verlesen

An diesem Freitag findet dann das offizielle Gedenken an die insgesamt 2977 Toten statt. Erwartet wird, dass Trump eine Rede hält, aber vor allem werden die Namen der 40 Opfer von Flug 93 verlesen, dazu erklingen die „Bells of Remembrance“.

„Mit unserem Gedenkort wollten wir einen Ort schaffen, an dem Heilung möglich ist“, sagt Gordon Felt. „Wo Menschen zusammenkommen können, um sich zu erinnern, um zu trauern, aber auch, um stolz auf die Helden zu sein.“ Hier gehe es nicht um Politik. „Die Unterstützung für unser Memorial war immer überparteilich. Jeder, der hierherreist, kommt, um Respekt zu bezeugen.“ Nur darum gehe es, sagt Felt. „Der Ort ist zu heilig, als dass hier politische Botschaften verbreitet werden dürfen.“

Der Jahrestag bringt die Erinnerung zurück an ein anderes Amerika – eines, in dem die Menschen respektvoll miteinander umgingen, sich füreinander aufopferten, den Gemeinsinn beschworen, Toleranz predigten. Es war ein Land, auf das viele stolz waren.

Noch am Abend des 11. Septembers 2001 versammelten sich auf den Treppen vor dem Ostflügel des Kapitols Dutzende von Kongressabgeordneten. Sie nahmen einander an die Hand, Republikaner und Demokraten, Senatoren und Repräsentanten. Dann sangen sie erst leise, dann immer lauter „God Bless America“. Zum Schluss umarmten und trösteten sie sich.

Szenen der Eintracht - und heute?

Einige Tage später besuchte Präsident George W. Bush das Islamische Zentrum in der Hauptstadt und sagte: „Das Gesicht des Terrors ist nicht das wahre Gesicht des Islam. Der Islam ist eine friedliche Religion. Wir kämpfen nicht gegen den Islam.“

Erinnert wird an Szenen der Eintracht. In Dallas (Texas) hielt ein Busfahrer plötzlich an und bat die Passagiere, mit ihm zu beten. Im kalifornischen Los Angeles verteilten Menschen des Nachts brennende Kerzen an Autofahrer. Auf den Stufen des Lincoln Memorials in Washington versammelten sich mehr als 1000 Menschen mit Kerzen in den Händen. Auf dem Marktplatz von Alexandria (Virginia) fand im strömenden Regen ein Freiluftgottesdienst statt. Die ersten Gebete sprach ein islamischer Geistlicher.

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Im vergangenen Jahr, zum 18. Jahrestag der Terroranschläge, verabschiedeten Demokraten und Republikaner im Senat einstimmig eine Resolution, in der sie die historische Bedeutung des „National Memorial Trails“ würdigen. Dieser Mehrzweck-Wanderpfad – vorgesehen sind auch Strecken für Fahrräder und Autos – soll auf 1300 Meilen die Gedenkstätten „Pentagon Memorial“ (Arlington/Virginia), den „Tower of Voices“ in Shanksville und das „National September 11th Memorial“ in New York miteinander verbinden.

Der Kontrast zu heute könnte kaum größer sein. Amerika ist gespalten, der Kongress blockiert. Liberale und Konservative misstrauen einander, die Wortgefechte sind aggressiv bis feindselig. Die Bedrohung durch die Corona-Pandemie hat nicht zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung geführt, sondern die Differenzen zwischen den Lagern eher noch vertieft.

Wenn es gut geht in diesen Tagen, könnte der Blick zurück die Gefühle dafür reaktivieren, was möglich ist in einem Land, in dem die Menschen nicht nur nach dem Gewinn der nächsten Wahl streben. Das hofft auch Gordon Felt. Wenn er an „Nine-Eleven“ denkt, sieht er vor allem das Positive, das Heldenhafte. Auch wenn er seinen Bruder jeden Tag vermisst.

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