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Was ist schon gerecht?: Deutschland kann vom amerikanischen Wahlsystem lernen
Das US-Wahlsystem mag uns fremd sein, aber es ist einfach und verständlich. Darauf sollte es ankommen - auch bei der nötigen Reform des deutschen Wahlrechts.
Stand:
Welch eine Aufregung, tagelang. Aber das amerikanische Wahlsystem ist auch gewöhnungsbedürftig. Jedenfalls für uns, die wir mit der Verhältniswahl leben. Für Überheblichkeit gibt es jedoch keinen Grund. Das US-System ist in sich logisch, es ist systematisch eindeutig. Und darauf kommt es beim Wahlrecht an.
Vom aktuellen System in Deutschland darf man das nicht mehr uneingeschränkt behaupten. Nach der von Union und SPD beschlossenen Reform kann man es auch niemandem mehr empfehlen.
Jenseits des Atlantiks hat man Mehrheitswahltradition, Präsidialsystem und ein spezifisches Bundesstaatsverständnis zu einem Ganzen zusammengefügt, das sich ganz gut reimt. Wahlen von Einzelpersonen auf Einzelämter verlaufen ohnehin immer nach dem – relativen oder absoluten – Mehrheitsprinzip, auch bei deutschen Bürgermeisterwahlen.
Aber in den USA kommt eben hinzu, dass die Bundesstaaten als getrennte Wahlkreise fungieren – in allen findet statt, was für Mehrheitswahlsysteme als typisch gilt, nämlich das Duell.
In der Natur der Sache
Wer gewinnt, hat die Stimmen. Die sind nach Größe der Staaten gestaffelt, eine demokratische Gewichtung, die wir so ähnlich im Bundesrat haben. Die Ausgangsbedingungen sind klar und damit fair. Dass am Ende Kandidaten verlieren können, die nach Einzelstimmen bundesweit vorne liegen, ist kein Systemfehler und auch nicht unbedingt ungerecht, sondern liegt in der Natur der Sache.
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Und bei uns? Die Mischung ist weniger einleuchtend. Der Bundestag hat keine feste Größe, im System eingebaut ist eine Tendenz zu dessen Aufblähung über jede Notwendigkeit hinaus. Es kommt zu Verschiebungen von Sitzen zwischen den Ländern, um den bundesweiten Parteienproporz zu wahren, der dann aber durch das Nichtausgleichen von Überhängen wieder gestört wird – wer das logisch und systematisch sauber nennt, dem ist nicht zu helfen.
Aber Verhältniswahl ist besser
Aber bei aller Kritikwürdigkeit des deutschen Wahlrechts: Das Prinzip der Verhältniswahl ist insgesamt besser als das der reinen Mehrheitswahl. Das hängt allerdings weniger mit der Gerechtigkeitsfrage zusammen als mit der Frage, welche Folgen ein Wahlsystem für eine Gesellschaft haben kann.
Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Systemen ist recht einfach: Im Mehrheitssystem findet in aller Regel die Koalitionsbildung vor der Wahl statt, bei Verhältniswahl danach. Das hat erhebliche Folgewirkungen.
Im System der USA müssen sehr viele Wähler schon vor der Abstimmung eine Koalition eingehen, sich zusammenfinden, um überhaupt nahe an die Mehrheit zu kommen. Denn es gibt im Mehrheitssystem wenig Konkurrenz mit Erfolgsaussichten. Man muss also früh Kompromisse eingehen, mit sich und anderen.
[Mehr zum Thema: Die Macht der Wahlleute - Trump könnte trotz Niederlage im Weißen Haus bleiben]
Aus dieser Abwägung vor der Wahl heraus haben Millionen US-Bürger ihre Stimme an Trump gegeben, ohne ihn für sonderlich sympathisch oder für ausgesprochen fähig zu halten. Denn was bleibt gemäßigten Republikanern, die sich nicht entschließen können, zu Joe Bidens Demokraten zu schwenken? Im Zweifelsfall die Wahlabstinenz. Aber dann haben sie noch weniger als bei einer zähneknirschenden Stimmabgabe für Trump.
Das Schlucken von Kröten
Die Biden-Koalition wiederum siegte knapp, weil es dem demokratischen Bewerber gelang, linke Demokraten zu gewinnen, die 2016 Hillary Clinton allein gelassen hatten. Die Aussicht auf weitere vier Jahre Trump wog schwerer als die Abneigung gegen den Mitte-Politiker Biden. Auch hier galt es also, eine Kröte zu schlucken.
Bei einer Verhältniswahl im parlamentarischen Systemen haben es die Bürger einfacher. Das Angebot ist breiter. Man kann purer wählen. Die Wählerkoalitionen, die sich vorab hinter den Parteien bilden, sind homogener. Das Problem der Regierungsbildung, in den USA in aller Regel mit der Wahl geklärt, verschiebt sich jedoch ins Parlament. Wir delegieren also die Regierungsbildung, wichtigste Folge einer Wahl, an Parteieliten. Diese müssen sich auf mehrheitsfähige, stabile Koalitionen verständigen.
Es kommt auf Konsensbereitschaft an
Dabei kann es Probleme geben – Verzögerungen wie 2017 bei uns, eine lange Phase der Unsicherheit wie in Belgien, oder die komplette Blockade wie am Ende der Weimarer Republik. Es kommt stets auf die Konsensfähigkeit der Parteien an.
Ist diese gegeben, haben es radikale Minderheiten schwer, überproportional Gewicht zu erlangen, wie es in Mehrheitssystemen immer wieder vorkommt. Die politische Mitte ist in Ländern mit Verhältniswahl das Maß der Dinge. Sie wirkt integrierend und stabilisierend.
In Gesellschaften mit Mehrheitssystemen, gekennzeichnet oft durch polarisierende Entweder-Oder-Konstellationen und den Zwang zu breiter Koalitionsbildung vor Wahlen, kommt es dagegen immer wieder zu Zerreißproben. Die erforderliche Einbindung von Rändern in die Großkoalitionen, um nahe an die Mehrheit zu kommen, geht auf Kosten der breiten Mitte.
Gravierende Macken des deutschen Systems
Unser System der personalisierten Verhältniswahl ist der Versuch, organisatorische Vorteile der Mehrheitswahl – kleine Wahlkreise, von der Basis aufgestellte Direktkandidaten, breite regionale Repräsentation – zu integrieren. Das 1949 gefundene Modell hat auch lange funktioniert, aber es hat eben gravierende Macken.
Deshalb muss man das Prinzip der „mit der Personalwahl verbundenen Verhältniswahl“ nicht aufgeben. Diese Definition im Wahlgesetz lässt Spielraum für einige Reformvarianten, auf die sich der Bundestag insgesamt aber nicht verständigen konnte.
Jetzt darf man gespannt sein, was der Bundespräsident mit dem verunglückten Reformversuch der Groko macht. Deren Wahlgesetz vom September ist mit verfassungsrechtlichen Zweifeln behaftet. Es liegt zur Prüfung gerade im Schloss Bellevue.
Bei einer ernsthaften Reform können wir in einer Hinsicht sogar von den Amerikanern etwas lernen: Deren Wahlsystem ist verständlich, klar, einfach und passt zum föderalen Regierungssystem. So sollte es bei uns auch sein.
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