
© picture alliance/dpa/Michael Kappeler
Die Grenzen des Alles oder Nichts: Wer Macht will, muss Kompromiss können
Bloß keine Zugeständnisse! Das scheint das Gebot der Stunde in Politik und Gesellschaft. Von den USA über die Ampel bis nach Sachsen. Ein Irrweg. Wahre Macht liegt künftig woanders.

Stand:
In Berlin scheitert die Ampel an der Unfähigkeit, zueinander zu finden. In den USA scheitern die Demokraten, weil ihr einziges Politikangebot die Warnung vor einem Gegner ist, der seinerseits nur in den Kategorien Schwarz und Weiß, Stärke und Schwäche denkt. Und in Dresden schaffen es CDU, SPD und BSW nicht, eine Koalition zu bilden, weil Extremisten auf Maximalforderungen bestehen. Diese Woche hinterlässt ein ungutes Gefühl.
Weil Deutschland eine politische Krise zu bewältigen hat. Ja. Aber auch, weil es offenbar immer schwieriger wird, aufeinander zuzugehen. Kompromisse zu finden. Brücken zu bauen. Doch das gehört zum Wesenskern des politischen Systems und damit auch zur Basis einer demokratischen Gesellschaft.
Gerade hier in Deutschland. Denn vieles ist in unserer politisch-gesellschaftlichen Struktur auf Kompromiss ausgelegt. Es geht schon beim Wahlsystem los. Das ist eben anders als in den USA nicht nach dem Motto „The Winner takes it all“ aufgebaut, sondern versucht bewusst, verschiedene politische Richtungen und Strömungen in einem repräsentativen parlamentarischen System abzubilden. Das Sozialsystem ist auf Partnerschaftlichkeit ausgelegt, zum Beispiel in der Rente mit seinem Generationenvertrag. Oder auch im Tarifsystem, wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer Löhne und Gehälter verhandeln.
Von Euro-Krise, über Flüchtlingspolitik, Corona bis zum Krieg in der Ukraine
Doch es ist etwas ins Wanken geraten. Und das nicht etwa durch das Ampel-Aus, das ist nur ein weiteres, wenn auch sehr deutliches Symptom, einer Kompromiss-Krise, in der sich viele westliche Gesellschaften befinden. Die Ursachen gehen weiter zurück.
Vielleicht bis zur Euro-Krise, dem Ursprung der AfD. Es war eine der ersten großen Krisen, in denen es starke Polarisierungseffekte gab. Griechenland retten oder im Regen stehen lassen. Die Europäische Union stand vor einer Zerreißprobe, die politisch genutzt wurde. Es war der Gründungszeitraum der AfD.
Sehen Sie hier alle Videos mit Chefredakteur Christian Tretbar
Es folgte die Flüchtlingspolitik. Zunächst begonnen mit einem Strom an Herzlichkeit und Wärme, kippte es ins Aggressive, Ablehnende. Warum? Weil die Welt in Lager geteilt wurde: für oder gegen Flüchtlinge. In dieser Phase wurde etwas sichtbar, was auch in den folgenden großen gesellschaftlichen Krisen immer deutlicher wurde: die Unfähigkeit zur Differenzierung. Probleme im Umgang mit der Flüchtlingsbewegung wurden kaum geäußert, aus Angst davor, in die rechte Ecke gestellt zu werden.
Corona hievte diese Polarisierung auf ein neues Niveau. Völlig unversöhnlich standen sich die Gruppen gegenüber. Entweder man ist für die Maßnahmen oder dagegen. Und beide Lager warfen sich vor, entweder undemokratisch zu sein oder blinde Lemminge, die nur der Regierung hinter liefen. Verschwörungsmythen machten sich breit.
Zweidrittel der Deutschen halten Gesellschaft für gespalten
Genau in diesem Setting kam der Krieg in der Ukraine dazu. Wieder spaltet sich die Gesellschaft in Putin-Fans und Putin-Hasser. Es gibt kaum mehr Grauzonen. Und jeder versucht daraus politisch Kapital zu schlagen. Mitten rein auch noch die Eskalation im Nahen Osten, vielleicht einer der geopolitischen Konflikte mit der größten manifestierten Kompromisslosigkeit, weil das Fundament eines jeden Kompromisses fehlt: die Anerkennung des Existenzrechts Israels. Und dieser Konflikt wird auch mitten unter uns ausgetragen.
Heute sagen laut einer Allensbach-Umfrage aus dem Sommer, 73 Prozent in Deutschland, dass sie die Gesellschaft als gespalten empfinden. Kein Wunder gehen die politischen Gräben tief ins Persönliche. Es gibt kaum mehr eine Möglichkeit, das Politische und das Private zu trennen. Familien zerstreiten sich, Freunde entfremden sich, weil die unterschiedlichen, meist politischen Auffassungen mit einer Massivität im Vordergrund stehen, wie es selten der Fall war.
Die Tonalität hat an einer Schärfe gewonnen und ist gekennzeichnet von einer teilweise gnadenlosen Unnachgiebigkeit. Viele Debatten in sozialen Netzwerken wirken da natürlich als Verstärker. Der Effekt ist dann entweder Rückzug: Der Diskurs findet gar nicht mehr statt. Oder völlige Offensive, im Versuch, noch schärfer und radikaler im Ton zu sein, um durchzudringen.
Selbstverständlich ist Streit, Debatte, Diskussion für eine Gesellschaft unwahrscheinlich wichtig. Die völlig falsche Schlussfolgerung wäre es, zu versuchen, Differenzen zu übertünchen, sie aus purer Sehnsucht nach Harmonie, mit unausgegorenen Kompromissen zu verkleistern. Aber wenn die Unvereinbarkeit das neue Normal wird, hat diese Gesellschaft ein echtes Problem.
Die Politik hat bei diesem gesellschaftlichen Klima eine besondere Verantwortung
Was hilft, ist eine Sensibilität für die Notwendigkeit zum Diskurs, aber auch zum sich anschließenden Kompromiss. Da wäre es schon ein Fortschritt, nicht jede Art von Fortschritt, von Progressivität und Modernität als links, grün versifften, woken Unsinn zu stigmatisieren. Und umgekehrt, nicht jeden Zweifel, jede Sorge, jede vielleicht dagegen laufende Idee als rückständig, rechts, gar rechtsextrem abzukanzeln. Zu bevormunden, statt zu überzeugen. Denn, nutzt man die Kennzeichnung als rassistisch, faschistisch, rechtsextrem, antisemitisch so niedrigschwellig bei jeder Gelegenheit, relativiert sich die in den Zuschreibungen enthaltenen tatsächlichen Gefahren für unsere Gesellschaft.
Der Politik kommt damit eine besondere Verantwortung zu, vor allem den Parteien des demokratischen Spektrums. Sie müssen noch stärker den Kompromiss suchen, statt die Polarisierung zu befördern.
Das heißt nicht, dass Politik richtungslos, gar beliebig sein soll. Nicht ohne Grund wird dem Kanzler oder der Kanzlerin eine Richtlinienkompetenz, damit auch ein Auftrag zur Führung zugeschrieben. Es muss also einen klaren politischen Rahmen geben, auch eine gewisse Zuständigkeit zur Entscheidung. Aber innerhalb dessen muss es das Bemühen sein, Kompromisse zu finden. Auch aus Verantwortung gegenüber dem gesellschaftlichen Klima.
Koalitionen mit drei eher unnatürlichen Partnern werden zunehmen
Nun ist das erste Dreierbündnis auf Bundesebene gescheitert. Schlimm genug, weil es zu aktueller politischer Handlungsunfähigkeit führt. Das aber ist nur der kurzfristige Effekt. Es verstärkt eben auch das Gefühl der anhaltenden Kompromisslosigkeit in der Gesellschaft und setzt ein schwieriges Vorzeichen vor künftige Koalitionen. Auch die werden aufgrund der politischen Komplexität und einer immer diverser werdenden Parteienlandschaft mutmaßlich geprägt sein von Dreierbündnissen. Bestehend aus Partnern, die keine natürlichen Verbindungen haben.
Echte Macht wird also künftig in der Fähigkeit zum Kompromiss liegen müssen. Der erste Versuch ist gescheitert. Man kann nur hoffen, dass alle daraus gelernt haben. Denn eines hilft in solchen Konstellationen nicht: ideologische Engstirnigkeit, das Beharren auf Maximalforderungen, der ausschließliche Blick auf die eigene Kernklientel.
Es gewinnt vielleicht künftig diejenige Partei, die weniger das Dagegen betont, als das, wofür sie tatsächlich eintritt. Diejenige, die ernsthaft versucht, zu verbinden, statt die Unterschiede allein zu betonen. Mehr das Angebot und weniger die Ablehnung.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid:
- false