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Letzte Bundestagsdebatte vor der Wahl: Eine Vision hat niemand anzubieten
Höchste Zeit, dass die Wahl kommt. Große Politikentwürfe wie zu Zeiten von Willy Brandt sind in diesem Wahlkampf nicht im Angebot. Dabei gäbe es dafür eine Nachfrage. Und eine Notwendigkeit.

Stand:
Es wird Zeit, dass die Wahl kommt. Die Argumente der Kontrahenten werden ohnehin seit Wochen wiederholt, auf dass die auch im hintersten Winkel des Landes noch gehört worden sind.
Berlin und der Bundestag sind ja nicht alles. Aber die letzte Bundestagsdebatte dieser Legislatur hat gezeigt: Tatsächlich erwartet uns alle eine Richtungswahl.
Nicht, weil Olaf Scholz und Friedrich Merz auf den letzten Metern im Umgang doch noch gallig werden, galliger jedenfalls als im TV-Duell. Sondern weil die beiden für unterschiedliche Politikentwürfe stehen. Nur leider ist keiner dabei, für den man sich so recht begeistern könnte.
Mehr Sozialstaat, weniger Sozialstaat, mehr Steuern, weniger Steuern – sagen wir so: Ein Narrativ, eine Erzählung, um nicht Vision zu sagen, hat niemand anzubieten.
Ach, wer sie noch erlebt hat, Willy Brandt und seine meisterliche Begabung, das Ungefähre, das in der Zukunft liegt, fasslich und faszinierend zu machen, weiß, wovon die Rede ist. Aber selbst, wer Brandts Reden nur nachliest, bekommt einen Eindruck davon.
,Mehr Demokratie wagen’, wie Willy Brandt es wollte, ist doch hochaktuell; das ,große Gespräch der Gesellschaft’ initiieren, was Brandt auch vorschwebte, nicht minder.
Stephan-Andreas Casdorff
„Willy wählen“ – heute brennt keiner und keine für Olaf oder Friedrich oder Robert oder Christian, von Alice besser zu schweigen. Heute geht es mit heißen Köpfen um Unternehmensinsolvenzen und Kapitalabfluss und Sondervermögen. Nicht einmal Megaprobleme bei Rente, Pflege, Gesundheit, beim Klima inspirieren dazu, die Gesellschaft in ihren Ansprüchen und Pflichten neu modellieren zu wollen.
Es geht um Führung
Aber deshalb muss die Wahl jetzt auch kommen: Weil die Parteien die Façon zu verlieren drohen. Grüne und FDP kämpfen auf der Zielgeraden immer mehr mit sich, mit ihren Spitzenkandidaten und um Disziplin.
Die SPD kämpft, das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte vor Augen, um Haltung. Und die Christenunion – ja, deren Beelzebub bleibt die AfD. Die Teufelsaustreibung, die Halbierung der Ultrarechten, ist Merz bisher nicht gelungen.
Darum geht es mit der Wahl, nach der Wahl erst recht: um Führung. Die Deutschen suchen sie laut Umfragen – es wäre schön, wenn das Sehnen den Inhalten, nicht dem Autoritären gelten würde.
„Mehr Demokratie wagen“, wie Willy Brandt es wollte, ist doch hochaktuell; das „große Gespräch der Gesellschaft“ initiieren, was Brandt auch vorschwebte, nicht minder. Damit die Bürger nicht vom Gefühl niedergedrückt werden, nur Objekt von Entscheidungen zu sein, sondern sie mündig mitbestimmen. Das wäre die richtige Richtungswahl.
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