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Polizeibeamte während einer Demonstration gegen Rassismus in Stuttgart.

© dpa/Sebastian Gollnow

Diskriminierung und übermäßige Gewalt: Wie viel „latenten Rassismus“ gibt es bei der Polizei?

Der deutschen Polizei wird immer wieder bescheinigt, ein Rassismusproblem zu haben. Die streitet das vehement ab.

Rassismus bei der Polizei, exzessive Gewalt – die offizielle Reaktion der Sicherheitsbehörden auf diesen Vorwurf ist meist, dass es das nicht gebe; man arbeite auf der Basis von Menschenrechten und Grundgesetz. Der Rassismus-Vorwurf gegen seine Leute sei falsch, sagte Bundespolizeichef Dieter Romann, nachdem vor einigen Jahren Betroffene vor Gericht Recht bekamen, als sie gegen das „Racial Profiling“ geklagt hatten – also Polizeikontrollen, die offensichtlich die Hautfarbe der Kläger zum Anlass nehmen.

SPD-Chefin Saskia Esken forderte am Wochenende, dem „latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte“ den Kampf anzusagen. Unterstützung für ihren Vorschlag, eine unabhängige Beschwerdestelle für die Betroffenen einzurichten, erhält sie von Linken und Grünen.

Union, FDP und AfD hingegen kritisieren den Vorstoß scharf – und warnen vor einer Pauschalverurteilung der Beamten. Der Vizevorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek, sagte kürzlich dem Tagesspiegel, wer der Polizei latenten oder strukturellen Rassismus unterstelle, wisse entweder nichts über Polizeiarbeit oder wolle das „aus Sicht der GdP verhältnismäßige Vorgehen der Einsatzkräfte“ politisch instrumentalisieren.

Dagegen stehen Betroffenenberichte und einige, wenn auch seltene, Gerichtsurteile. Eine Liste von Vorfällen unterschiedlicher Intensität, die allein die Berliner „Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt“ über Vorfälle in der Hauptstadt führt, ist für die Jahre 2000 bis 2020 300 Seiten lang. Im vergangenen Jahr verzeichnete die Initiative 18 Fälle, der jüngste aus diesem Jahr stammt vom 24. April.

Die Eskalation der Gewalt ist in allen Einsatzsituation möglich

Neutrale oder verlässliche Zahlen fehlen weitgehend. Dem Mangel versucht die seit 2018 laufende Studie des Bochumer Kriminologie-Professors Tobias Singelnstein abzuhelfen. Darin geht es allgemein um polizeilichen Gewalteinsatz über das legitime Maß hinaus. Ein Zwischenbericht erschien im vergangenen September; nach Auswertung von knapp 3400 Fragebögen geht Singelnsteins Team davon aus, „dass rechtswidrige polizeiliche Gewaltausübungen prinzipiell in allen Einsatzsituationen vorkommen können“.

Über die Lage schwarzer Menschen in Deutschland läuft aktuell der ebenfalls öffentlich geförderte „Afrozensus“ unter Federführung von Eoto, einer Interessenvertretung von Afrodeutschen und der afrikanischen Diaspora.

Black Lives Matter: Anti-Rassismus-Demo in Berlin.
Black Lives Matter: Anti-Rassismus-Demo in Berlin.

© fritz engel / archiv agentur zen

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Betroffene, Forscherinnen und Menschenrechtsexperten betonen immer wieder, warum gerade polizeiliches Handeln von solcher Bedeutung ist. Das Vorgehen der Beamten markiert in aller Öffentlichkeit und von Staats wegen, wer als gefährlich oder kriminell zu gelten hat und kann so falsche Standards für die ganze Gesellschaft setzen.

UN-Fachleute wiesen in Gutachten darauf hin, dass dadurch zudem das Vertrauen der derart Markierten zum Staat schrumpft und vor allem Gesellschaften gespalten werden, die von wachsender Vielfalt geprägt sind. In Deutschland hat inzwischen ein Viertel der Bevölkerung familiäre Wurzeln im Ausland, sichtbare Minderheiten ohne diesen Hintergrund sind dabei noch gar nicht erfasst.

Auch Einzelfälle von Machtmissbrauch oder -überschreitung durch die Polizei, sagte kürzlich der Historiker Patrice G. Poutros in einem ARD-Interview, hätten daher „eine exemplarische Bedeutung und die kann man nicht wegreden“.

Internationale Kritik an Deutschland

Das „Racial Profiling“, also verdachtsunabhängige Kontrollen etwa schwarzer Menschen, seien nur ein Teil des Problems, sagt Eva Maria Andrades vom Antidiskriminierungsverband Deutschland. Grundsätzlich fehle bei vielen Polizisten, aber auch Staatsanwälten und Richtern ein Bewusstsein für das Problem des Rassismus. „Oft weigern sich Beamte, Anzeigen wegen rassistischer Beleidigung aufzunehmen, weil sie für das Thema kaum sensibilisiert sind“, sagt die Juristin. „

Viele People of Color haben deshalb nur wenig Vertrauen in die staatlichen Behörden.“ Hinzu komme, dass „Anzeigen gegen Polizisten selten zu intensiven Ermittlungen und so gut wie nie zu Verurteilungen führen“.

Dafür wird Deutschland auch von internationalen Organisationen seit Jahren kritisiert. In einem Bericht aus dem März 2020 fordert die Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarats von Bund und Landesregierungen, „Maßnahmen zur Beendigung des Racial Profiling“ zu ergreifen.

Bereits im Jahr 2015 – als sich Deutschland für die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge weltweit viel Anerkennung erwarb – zeigte sich der damalige EU-Menschenrechtskommissar Nils Muižnieks „besorgt angesichts von Berichten über rassistisch motiviertes Verhalten seitens der deutschen Strafverfolgungsbehörden, einschließlich mutmaßlicher Gewalttaten und Beleidigungen“.

Ricardo Sunga, Leiter einer Expertenkommission des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, hatte zwei Jahre zuvor auf das Problem hingewiesen: Die Polizei leugne immer wieder, dass es „Racial Profiling“ in Deutschland gebe. Außerdem mangle es an unabhängigen Beschwerdestellen. Beides „fördert die Straflosigkeit“, sagte Sunga.

Dass das „Racial Profiling“ trotz der vielfältigen Kritik andauert, könnte auch an mangelnder Aufklärung liegen. Ein Gutachten des Deutschen Instituts für Menschenrechte mahnte kürzlich an, Grund- und Menschenrechtsbildung in der Aus- und Fortbildung von Polizistinnen und Polizisten zu verstärken. Noch zu oft werde die Auseinandersetzung mit Rassismus und dem Diskriminierungsverbot in Widerspruch dazu gesehen, dass die Polizei sich neutral zu verhalten habe.

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