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„Echte Zeitenwende“ oder „extrem riskante Wette“?: Was Ökonomen zu den Finanz-Vorhaben von Union und SPD sagen
Friedrich Merz hat in wenigen Tagen eine Kehrtwende bei der Schuldenbremse hingelegt. Ökonomen befürworten die Reform zugunsten von Verteidigung und Infrastruktur mehrheitlich – doch es gibt auch Kritik.
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Neun Tage nach der Wahl, vier nach Beginn der Sondierungen, haben sich Union und SPD am Dienstagabend auf finanzpolitische Reformen in historischem Ausmaß verständigt. Was Olaf Scholz vergeblich wollte und ihm auch durch Friedrich Merz versagt wurde, kann nun der wahrscheinlich nächste Bundeskanzler umsetzen – teilweise noch mit dem alten, dem 20. Bundestag.
Die Kernpunkte: Union und SPD wollen Verteidigungsausgaben oberhalb von einem Prozent der Wirtschaftsleistung von der Schuldenbremse ausnehmen. Im Grundgesetz soll zusätzlich und außerhalb der Schuldenbremse ein kreditfinanziertes Sondervermögen von bis zu 500 Milliarden Euro für Infrastruktur festgeschrieben werden. Die Schuldenbremse soll auch für die Länder gelockert werden. Sie sollen Kredite in Höhe von bis zu 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung aufnehmen dürfen – das darf bisher nur der Bund. Wie blicken Ökonominnen und Ökonomen auf die Einigung?
Lob: Booster für Konjunktur
Zahlreichen Ökonomen haben die Einigung vom Dienstagabend positiv bewertet. „Die Einigung der Sondierer ist ein Gamechanger, ein wuchtiges und gutes Paket“, sagte Jens Südekum der Nachrichtenagentur Reuters. “Der Düsseldorfer VWL-Professor ist neben Clemens Fuest, Moritz Schularick und Michael Hüther Teil des Vierer-Gremiums gewesen, das den Sondierungsteams zum Auftakt ihrer Gespräche haushaltspolitische Optionen vorgelegt hat. Diese Vorschläge sind aus Sicht Südekums zu „gut 90 Prozent“ umgesetzt worden.
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Sebastian Dullien sprach am Mittwoch von einer „echten Zeitenwende für die Finanzpolitik“. Mit den Maßnahmen könnten viele Bremsklötze entfernt werden, die die deutsche Wirtschaft zuletzt am Wachsen gehindert haben. Vom 500-Milliarden-Sondervermögen für die Infrastruktur verspricht er sich zudem einen Konjunkturschub. „Wenn das so gelingt, dann dürfte die Stagnation der deutschen Wirtschaft jetzt schnell überwunden sein“, sagte der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung.
Auch die Stimmung in den Unternehmen werde steigen, glaubt Dullien. Beim BDI sprach Hauptgeschäftsführerin Tanja Gönner am Mittwoch von einem „wichtigen Signal“. SPD und Union hätten den Ernst der Lage erkannt.
Nach Modellrechnungen des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) vom Mittwoch könnten jährliche Investitionen von 50 Milliarden Euro über zehn Jahre hinweg die realen Gesamtinvestitionen um fast sieben Prozent steigen. Allein dadurch würde das Bruttoinlandsprodukt nach diesem Zeitraum um ein Prozent höher ausfallen.
Kritik: Schulden womöglich nicht nur für Investitionen
Auch Ifo-Präsident Clemens Fuest lobte die Einigung, ausdrücklich auch beim Thema Infrastruktur. Gleichzeitig sieht er die Gefahr, dass Investitionen in den vorhandenen öffentlichen Haushalten reduziert werden und man sich auf die Mittel aus dem Sondervermögen verlässt. „Das würde im Ergebnis bedeuten, dass die Schulden für andere Zwecke als Investitionen eingesetzt werden“, kritisierte Fuest auf der Social-Media-Plattform LinkedIn.
Fuest, Südekum und Co. wiesen schon in ihrem Reformpapier daraufhin, dass diese Gefahr besteht und kurzfristig nicht aufzulösen ist. Durch Kofinanzierung von Bund, Ländern und Kommunen ließe sich das teilweise verhindern. Auch der Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – die Wirtschaftsweisen – hat in seinem jüngsten Jahresgutachten Mindestinvestitionsquoten in den Haushalten gefordert. Diese in der kurzen Zeit bis zu Konstituierung des 21. Bundestages gesetzlich umzusetzen, gilt aber als unrealistisch.
Kritik: Druck für Reformen sinkt
In den Wahlkampf ist die Union noch mit der Position gezogen: Ausgaben kürzen, Wachstum stimulieren und dann gegebenenfalls finanzpolitisch tätig werden. Diese Reihenfolge hat Merz nun umgekehrt. Union und SPD wollen erstmals auch den Bundesländern ein strukturelles Defizit von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung einräumen. „Das ist heute das Ende der Schuldenbremse, wie wir sie kannten“, sagte Moritz Schularick, Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft. Bisher mussten Haushalte in Ländern und Kommunen stets ausgeglichen sein.
Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm befürchtet daher, dass der Reformdruck nun sinkt. „Ohne Reformen ist das ein Weg in den Abgrund“, sagte Grimm der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Die Ökonomin warnte, es sei angesichts steigender Sozialausgaben und vor dem Hintergrund des demografischen Wandels eine „extrem riskante Wette, den Reformbedarf durch Verschuldung immer weiter hinauszuschieben“. Sie fügte an: „Die Chancen, dass das gut geht, stehen schlecht.“
Auch Fuest nahm die Politik in die Verantwortung, sofort mit der Kürzung anderer öffentlicher Ausgaben zu beginnen. Südekum, Dullien oder DIW-Präsident Marcel Fratzscher wiesen darauf hin, auch Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. „Mehr Geld für Zukunftsinvestitionen ist wichtig, aber allein nicht ausreichend, um Deutschlands und Europas wirtschaftliche und sicherheitspolitische Herausforderungen schnell, überzeugend und dauerhaft zu lösen“, schrieb Fratzscher auf X.
Lob: Staat sichert militärische Handlungsfähigkeit
Friedrich Merz bekräftigte am Dienstag seine Bereitschaft, massiv in Verteidigung zu investieren. „Whatever it takes“, sagte Merz in den Worten des ehemaligen EZB-Chefs Mario Draghis, die dieser in der Eurokrise wählte. Ökonomen pflichteten dem wahrscheinlich nächsten Bundeskanzler bei. IfW-Präsident Schularick sprach von einem „extrem wichtigen Schritt für die Sicherheit in Deutschland und Europa“. Er wirbt schon lange für eine deutliche Steigerung der Rüstungsausgaben. Diese nun teilweise von der Schuldenbremse auszunehmen, hält er für sinnvoll. „Es macht den Staat auch in künftigen Krisen handlungsfähig“, so Schularick. Auch IW-Direktor Michael Hüther lobte den Schritt als „schnelle Reaktion auf den Verfall des transatlantischen Bündnisses“.
Ifo-Präsident Clemens Fuest hält ihn ebenfalls für richtig. „Deutschland kündigt damit an, für Verteidigung an finanziellen Mitteln aufzubringen, was immer nötig ist, um Angreifer abzuschrecken“, so der Ökonom. Gleichzeitig mahnt Fuest, die Mittel effektiv einzusetzen. Aus seiner Sicht müssen neue Technologien und moderne Waffen wie Drohnen oder Raketenabwehrsysteme dabei eine zentrale Rolle spielen. Südekum äußerte sich ähnlich.
Kritik: Verteidigung muss aus Kernhaushalt finanziert werden
Zwar sind sich die meisten Ökonomen einig, dass Deutschland beim Thema Verteidigung lange viel zu wenig investiert hat und das nur durch kreditfinanzierte Ausgaben aufholen kann. Da die Sicherheit jedoch zu den staatlichen Kernaufgaben gehört, fordern einige, Rüstung auch aus dem regulären Haushalt zu finanzieren.
„Mittelfristig sollten Rüstungsausgaben nicht mit Schulden finanziert werden“, meint Clemens Fuest. Auch die Wirtschaftsweise Veronika Grimm forderte gegenüber der „Neuen Osnabrücker Zeitung“, der Haushalt müsse künftig so umstrukturiert werden, dass „das Verteidigungsbudget dauerhaft aus dem Kernhaushalt gestemmt werden kann“.
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