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Hooligans auf dem Börsenplatz in Brüssel.

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Update

Belgien nach den Anschlägen: Ein Land im Ausnahmezustand

Belgien fahndet weiter nach Terroristen. Hooligans randalieren. Politiker streiten sich. Wie ist die Lage?

Hooligans, die nationalistische Parolen skandieren und auf friedliche Brüsseler Bürger einprügeln – die Bilder vom Börsenplatz in der belgischen Hauptstadt vom Ostersonntag haben eine knappe Woche nach dem Brüsseler Doppelanschlag nicht nur den Blick auf die belgische Schläger-Szene gelenkt, sondern auch zu einer Auseinandersetzung in der belgischen Innenpolitik geführt. Gleichzeitig mussten die belgischen Behörden einen Rückschlag bei der Ermittlung der Attentäter von Brüssel hinnehmen. Und der Brüsseler Bürgermeister Yvan Mayeur bedauerte unterdessen die Freilassung eines Verdächtigen nach den Anschlägen. Und in Brüssel selbst werben Dschihadisten werben nach den Anschlägen aktiv um Terror-Nachwuchs. Den Angaben eines belgischen Kommunalpolitikers zufolge wurden am Osterwochenende Propaganda-Nachrichten mit eindeutigem Inhalt an junge Menschen in der als Islamistenhochburg bekannten Brüsseler Gemeinde Molenbeek verschickt.

Warum hat Brüssels Bürgermeister Mayeur die Freilassung von Fayçal C. bedauert?

Fayçal C. war am vergangenen Donnerstag festgenommen worden. Er wurde verdächtigt, der "Mann mit dem Hut" zu sein, der als dritter Verdächtiger der Anschläge auf dem Brüsseler Flughafen gesucht wird. Da sich der Verdacht nach Angaben der Staatsanwaltschaft nicht bestätigte, wurde der 30-Jährige am Montag aber ohne Auflagen freigelassen.

Der Bürgermeister von Brüssel, Yvan Mayeur, bedauerte die Freilassung von Fayçal C. Dieser sei ein Unruhestifter und habe wahrscheinlich Dschihadisten angeworben, sagte Mayeur am Dienstag dem französischen Radiosender France Inter. Auch wenn der 30-Jährige nicht wegen einer Verwicklung in die Anschläge festgehalten werden konnte, hätte er wegen anderer Tatbestände in Haft bleiben sollen.

"Dieser Mann hat Flüchtlinge aufgewiegelt und hat sich mit Vertretern von Hilfsorganisationen geprügelt", berichtete Mayeur von Ereignissen in dem zentralen Flüchtlings-Zeltlager, das im Herbst vergangenen Jahres Hunderten von Flüchtlingen eine provisorische Unterkunft in Brüssel gegeben hatte. Schon damals habe er die Staatsanwaltschaft aufgefordert, einzugreifen und ein Platzverbot gegen Fayçal C. auszusprechen. Dies sei vergeblich gewesen, berichtete der Bürgermeister der belgischen Hauptstadt.

Gibt es neue Erkenntnisse zu den Attentätern von Brüssel sowie den Netzwerken in Belgien und Frankreich?

Unklar bleibt weiterhin die Identität des „Mannes mit Hut“ – also jenes mutmaßlichen Attentäters mit einer hellen Jacke, den eine Überwachungskamera kurz vor dem Anschlag am Brüsseler Flughafen festgehalten hatte. Bereits am Abend des 22. März hatte die Polizei ein Foto des Mannes veröffentlicht, das ihn gemeinsam mit den beiden Selbstmordattentätern Ibrahim al Bakraoui und Najim Laachraoui zeigte.

Nachdem sich nicht bestätigt hatte, dass es sich bei dem „Mann mit Hut“ um Faycal C. handelte und dieser später wieder freigelassen wurde, veröffentlichte die Polizei unterdessen neue Videoaufnahmen des „Mannes mit Hut“, um seine Identität zu klären.

Derweil weiteten sich die Ermittlungen der Fahnder in Frankreich, Belgien und den Niederlanden aus, nachdem am vergangenen Donnerstag bei Paris der 34-jährige Franzose Reda Kriket festgenommen worden war. Der französische Innenminister Bernard Cazeneuve hatte verkündet, dass durch die Festnahme ein weiterer Anschlag in Frankreich, dessen Planung sich bereits in einem „fortgeschrittenem Stadium“ befunden habe, vereitelt worden sei. Es blieb nicht bei der Festnahme von Reda Kriket: In Belgien und den Niederlanden wurden mehrere Verdächtige festgenommen – darunter der 32-jährige Franzose Anis B. Auch dem in Rotterdam festgesetzten Mann wird vorgeworfen, einen Anschlag in Frankreich vorbereitet zu haben. Die französischen Ermittler warten nun auf seine Auslieferung.

Was ist auf dem Brüsseler Börsenplatz passiert?

Wenige Stunden nach den Anschlägen vom vergangenen Dienstag war es der Brüsseler Bürgermeister Yvan Mayeur gewesen, der vor der Presse den bisherigen Stand zu den Opferzahlen mitteilte und dabei sichtlich um Fassung rang.

Am Ostersonntag war es nun weniger Trauer, sondern sichtbare Wut, die aus den Worten Mayeurs sprach. Er sei „entsetzt“, sagte der Sozialist, dass es einer Gruppe von „Faschisten“ gelungen sei, den Brüsseler Börsenplatz am Nachmittag zu okkupieren.

Rund 400 Hooligans waren zuvor aus dem flämischen Antwerpen im Norden Belgiens nach Brüssel gereist, wo sie auf dem Börsenplatz ausländerfeindliche Parolen riefen. Offenbar rotteten sie sich ganz bewusst auf dem Platz zusammen, wo am Ostersonntag nach den Anschlägen ursprünglich ein „Marsch gegen die Angst“ hätte starten sollen. Allerdings hatte der belgische Innenminister Jan Jambon zuvor erklärt, dass die Polizeibeamten wegen der laufenden Terrorermittlungen nicht in der Lage seien, den Marsch zu schützen. Sowohl Jambon, der der flämischen Nationalisten-Partei N-VA angehört, als auch der Brüsseler Bürgermeister Mayeur riefen die Bürger am vergangenen Wochenende anschließend dazu auf, nicht zur Kundgebung zu gehen.

Trotzdem versammelten sich am Sonntag zahlreiche Brüsseler auf dem Börsenplatz, um ein Zeichen gegen den Terror zu setzen. Viele Menschen hatten dort Blumen abgelegt, um der Opfer vom 22. März zu gedenken, die bei den Anschlägen am Flughafen Zaventem und in der Metrostation Maelbeek getötet worden waren. Unter den rund 500 Personen, die sich auf dem Platz versammelten, waren auch zahlreiche Muslime. So erklärte eine 31-jährige anwesende Muslimin laut einem Bericht der französischen Zeitung „Libération“, sie sei angesichts der Brüsseler Selbstmordattentäter „angewidert, was diese Leute im Namen des Islam machen“.

Am Nachmittag erreichten die Schlägertrupps den Platz und grölten dort Slogans wie „Wir sind hier zu Hause“. Gleichzeitig warfen sie dem belgischen Staat vor, die Dschihadisten der Terrormiliz „Islamischer Staat“ zu unterstützen. Es dauerte eine Weile, bevor die Polizei Wasserwerfer einsetzte und die Hooligans in Richtung des Brüsseler Nordbahnhofs zurückdrängte. Rund zehn der schwarz gekleideten Männer wurden festgenommen.

Haben belgische Behörden beim Vorgehen gegen die Hooligans versagt?

Der Brüsseler Bürgermeister Mayeur stellte die Frage, wie es überhaupt sein konnte, dass die Hooligans das Brüsseler Zentrum als Aufmarschplatz nutzen konnten. Nach seinen Angaben sei er bereits am Samstag von Sicherheitsbehörden vor „400 Verrückten“ gewarnt worden, die nach Brüssel kommen wollten. Mayeur warf der Polizei der Stadt Vilvoorde vor, den Störer-Trupp nicht gestoppt zu haben. Im flämischen Vilvoorde, das auf der Bahnstrecke von Antwerpen nach Brüssel liegt, hatten sich die Hooligans versammelt. Der Bürgermeister von Vilvoorde erklärte, er habe in Absprache mit der Polizei die Hooligans bewusst nicht davon abgehalten, den Zug nach Brüssel zu nehmen. Seine Begründung: Man habe verhindern wollen, dass „zu viel Frust“ bei der Randale-Truppe entstehe. Dass wie im Fall der Hooligans in Vilvoorde Probleme bei schwer zu überwachenden Demonstrationen einfach von einer Kommune in die andere weitergereicht werden, ist in Belgien keineswegs ein Einzelfall.

Kritische Worte richtete der Brüsseler Bürgermeister Mayeur nach den Ausschreitungen auf dem Börsenplatz auch an die Adresse des aus Flandern stammenden Innenministers Jambon: Als die Hooligans im Anmarsch waren, habe der Minister nicht eingegriffen, obwohl er doch von Amts wegen für die belgische Bundespolizei und damit auch für die Bahnpolizei zuständig sei, lautete der Vorwurf.

Nach dem Aufmarsch der teils rechtsgerichteten Hooligans werden auch in Deutschland kritische Stimmen laut. „Die Dezentralisierung in Brüssel und Belgien hat bekanntermaßen Schwächen“, sagte die Grünen-Fraktionschefin im Europaparlament, Rebecca Harms, dem Tagesspiegel mit Blick auf die Zusammenarbeit der Behörden im Nachbarland. Allerdings müsse man auch sehen, dass in Deutschland Hooligans ebenfalls „viel Spielraum“ hätten, fügte Harms hinzu. Zudem stellten im Nachbarland „Fahndung, Terroralarm und Sicherheitskontrollen schon seit Tagen außergewöhnliche Anforderungen an die belgische Polizei“, sagte die Europaabgeordnete.

Worin liegen die Ursachen für das Versagen?

Der politische Streit macht mehrere Schwächen des politischen Systems in Belgien deutlich. Belgien besteht aus drei Regionen – Flandern, Wallonien und Brüssel –, die jeweils auf ihre Eigenständigkeit pochen. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da die Parteien im Land eigentlich zusammenstehen müssten, werden die Bruchlinien im Parteiensystem deutlich – etwa zwischen den flämischen Separatisten von der N-VA und den französischsprachigen Sozialisten.

Im politischen Kreuzfeuer steht der flämische N-VA-Politiker Jambon auch, seit Kritik an seiner Informationspolitik unmittelbar nach den beiden Explosionen in der Abflughalle des Flughafens Zaventem laut geworden ist. Die Explosionen ereigneten gegen 8 Uhr. Der Innenminister hat zu Protokoll gegeben, dass er um 8.50 Uhr die Anweisung gegeben habe, die Brüsseler Metrostationen und Bahnhöfe zu räumen.

Laut einem Bericht der belgischen Zeitung „La dernière heure“ widersprach aber der Ministerpräsident der Region Brüssel-Hauptstadt, Rudi Vervoort, dieser Darstellung. Nach dessen Angaben habe man um 8.59 Uhr bei Jambon nachgefragt, ob denn nun der Metroverkehr eingestellt werden solle, aber keine klare Anweisung erhalten. Bei der Bombenexplosion in der U-Bahn-Station Maelbeek um 9.11 Uhr starben rund zwei Dutzend Menschen. Durch die Selbstmordattentate im Flughafen und in der U-Bahn am Dienstag voriger Woche starben nach jüngsten Angaben des Gesundheitsministeriums 38 Menschen, darunter drei Attentäter. Zunächst war lange von 31 Toten, dann von 35 Toten einschließlich der Attentäter die Rede.

Werden die möglichen Versäumnisse untersucht?

Ja. Ein Untersuchungsausschuss im belgischen Parlament soll den Vorwürfen rund um die Brüsseler Anschläge nachgehen. In erster Linie soll der Untersuchungsausschuss klären, warum einer der Attentäter – der Belgier Ibrahim al Bakraoui – nicht rechtzeitig gestoppt wurde. Ibrahim al Bakraoui zündete eine der Bomben am Flughafen. Die Türkei hatte ihn im vergangenen Sommer nach Europa abgeschoben, wobei Belgien nach den Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan darüber informiert wurde, dass der Mann ein „ausländischer terroristischer Kämpfer“ sei. Der Brüsseler Innenminister Jambon macht wiederum einen belgischen Verbindungsbeamten in Istanbul dafür verantwortlich, dass diese Information erst nach Brüssel gelangte, als Ibrahim al Bakraoui schon wieder untergetaucht war.

Sowohl Jambon als auch der ebenfalls aus Flandern stammende Justizminister Koen Geens hatte seinen Rücktritt angeboten, nachdem deutlich geworden war, dass belgische Behörden den Hinweis der Türkei im Sommer 2015 zunächst verschlafen hatten. Premierminister Charles Michel lehnte die Rücktritte aber ab. Justizminister Geens sagte derweil angesichts der innenpolitischen Debatte um den Umgang mit dem Terror und dessen Folgen, dies sei "nicht der richtige Zeitpunkt, wenn wir uns gegenseitig bekämpfen". "Der Feind befindet sich in Syrien", sagte Geens dem flämischen Fernsehsender VRT.

Wann öffnet der Flughafen in Brüssel wieder?

Noch sind die Schäden am Flughafen nicht komplett beseitigt. Im Laufe der Woche soll der Flughafen zumindest teilweise wieder öffnen. Ein Testlauf am Dienstag soll Erkenntnisse liefern, inwieweit die Anlagen wieder nutzbar sind. Sollte der Testlauf erfolgreich sein, könnten etwa 20 Prozent des Betriebes frühestens ab Mittwoch anlaufen, sagte eine Sprecherin des Flughafens.

Mittels einer Behelfskonstruktion soll der durch die Detonationen schwer beschädigte Gebäudeteil des Flughafens umgangen werden. Bei dem Test sollen Sicherheit und Feuerschutz sowie Gepäckabfertigung und Beschilderung geprüft werden. Wie die Koordinierungsstelle des Brüsseler Flughafens, BSC, mitteilte, erhielten zunächst nur einige wenige Flüge von Brussels Airlines, einer Lufthansa-Tochter, Starterlaubnis. Sobald die Kapazität hochgefahren werden könne, könnten andere Fluggesellschaften ihre Flugpläne einreichen. (mit AFP/rtr/dpa)

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