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Angriff auf eine Stellung der Terrormiliz IS im Irak

© dpa/EPA/JM Lopez

Naher Osten: Ein Wirtschaftsfrieden könnte dem Islamismus Einhalt gebieten

Im Nahen Osten zerfallen Nationen und Religionen. Der Westen ist daran nicht unschuldig. In kultureller Hinsicht sollte er sich zurücknehmen - bei der wirtschaftlichen Kooperation dagegen nicht. Ein Essay.

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Für den Nahen Osten war Samuel Huntingtons Analyse vom „Kampf der Kulturen“ noch zu optimistisch. Weiterhin kämpfen hier jüdische und islamische, säkulare und fundamentalistische Kulturen gegeneinander. Hinzugekommen sind innerkulturelle Kämpfe zwischen Konfessionen, Ethnien und Stämmen.  Zwischen Schiiten und Sunniten ist der uralte Erbkonflikt um die Nachfolge Mohammeds in einen Machtkonflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran übergegangen. Christen, Jesiden und andere Minderheiten werden zwischen den Fronten zerrieben. Im Machtvakuum breiteten sich extremistische Dschihadisten aus. Mit ihnen ist der alte Kampf der Kulturen in einen  Kampf der Barbarei gegen die Zivilisation umgeschlagen.

Die Bündnispolitik des Westens im Nahen Osten ist gescheitert

Auf die Implosion der alten kulturellen Ordnungen muss der Westen mit neuen Strategien antworten. Seine bisherige Bündnis- und Interventionspolitik ist im Nahen Osten vollständig gescheitert. Die Entfesselung des dschihadistischen Islamismus ist in der Levante nicht zuletzt über die vorangegangene Destabilisierung autoritärer, aber säkularer Regime auch mit Hilfe des Westens möglich geworden.

Darüber wird die ganze Tragweite von Huntingtons Warnungen offenkundig. Er hatte sich bemüht, die Einsicht zu verbreiten, dass eine weitere Universalisierung westlichen Strukturen nur Öl ins Feuer der Kulturkämpfe schütten würde. Statt weiterer Ausdehnung erfordere eine westliche Selbstbehauptung Rücknahme und Selbstbegrenzung. Nach dem „Fluch der bösen Tat“ (Peter Scholl-Latour) bleiben ihm nur noch die Rückzugsgefechte zur Eindämmung des Dschihadismus. Dafür ist der heillos überdehnte Westen längst auf die Hilfe nahöstlicher Mächte angewiesen, selbst wenn diese autoritär regiert werden wie Ägypten und selbst wenn es sich um radikalislamische Staaten wie Saudi-Arabien und den Iran handelt. Das regressiv-totalitäre Kalifatsregime fordert zugleich die schiitischen Mächte, autoritäre Monarchien und die archaische Stammesherrschaft der Saudis heraus.

Für die religiösen Extremisten ist der Westen, dies ist die gute Nachricht, nur noch ein Feind unter vielen. Daraus ergeben sich nämlich neue Bündnisoptionen. Die Differenzierung der islamischen Welt nach autoritären, radikalen und extremistischen Kräften macht zunächst die Abkehr von der naiven Unterscheidung zwischen guten Demokraten und bösen Diktaturen notwendig.

Demokratisch gewählte Muslimbrüder haben Ägypten in Richtung Gottesstaat gedrängt, die demokratische Türkei hat das Treiben des Islamischen Staates erst ermöglicht. Um ein Haar hätten die westlichen Demokratie-Universalisten den Islamisten auch noch den Weg nach Damaskus freigebombt, wo Realpolitiker einen säkularen Diktator leicht als das kleinere Übel identifiziert hätten. 

Der Westen muss sich stärker auf seine eigenen Angelegenheiten konzentrieren

Nach der Verstrickung in nahöstliche Paradoxien wird es für den Westen höchste Zeit, sich stärker auf seine eigenen Angelegenheiten und deren Selbstbehauptung zu konzentrieren. Gegenüber den „orientalischen Angelegenheiten“ müsste er dementsprechend zu einer Politik von Neutralität und Gleichgewicht übergehen. Darüber würde er seine übertriebene Feindschaft zum Iran und seine übertriebene Freundschaft zu dem seit jeher zwielichtigen Saudi-Arabien und der neuerdings zwielichtigen Türkei relativieren. Diese könnte ansonsten noch ihre Nato-Verbündeten in die Implosion nahöstlicher Kulturen und Nationen hineinziehen.  

Die über seinen Rückzug freiwerdenden Energien sollte der Westen in die Zukunft investieren. Parallel zur Islamisierung ist unter den jungen Menschen eine Neuorientierung an der Individualisierung der Interessen erkennbar. Diese bereitet einen Paradigmenwandel von den kollektiven Identitäten der Nationen und Religionen zu den rationalen und funktionalen Kategorien der Zivilisation vor. 

Eine verschämte Kooperation zwischen Israel, Ägypten und Jordanien

Angriff auf eine Stellung der Terrormiliz IS im Irak

© dpa/EPA/JM Lopez

Auf lange Sicht wird der Kampf der zornigen jungen Männer gegen die erfolgreichere säkulare Zivilisation, egal, ob diese westlich, russisch oder chinesisch geprägt ist, nur mit Hilfe einer „posthistorischen Dedramatisierung“ (Peter Sloterdijk) zu bewältigen sein. Den jungen Aktivisten in der Arabellion ging es vor allem um Partizipation.

Der Riss zwischen kollektiven Identitäten und individuellem Streben nach Anschluss an die Globalisierung schlägt sich heute selbst in den Migrationswellen nach Europa nieder. Er geht mitten durch die islamische Welt, sogar im Iran streiten Reformer mit Religionswächtern, allerdings nicht nach dem Schema West oder Ost, sondern zwischen ökonomischen Interessen und religiösem Fundamentalismus.

Wirtschaftsfrieden zwischen Israel, Jordanien und Ägypten

Wer an der Globalisierung teilhaben will, dem bleibt nur die  wissenschaftlich-technische und ökonomische Kooperation, selbst mit religiösen und politischen Feinden. Dies gilt zwischen dem Iran und dem Westen und zwischen Israel und seinen Nachbarn.  

Unter den politischen und kulturalistischen Paradigmen „Nation und Religion“ ist die Lage Israels im Nahen Osten überaus prekär, unter dem Paradigma „Integration in die Weltzivilisation“ könnte Israel seinen oft schlechter entwickelten Nachbarn Chancen anbieten. Die politische Vernunft ist eine schwache Kraft. Gewaltig sind dagegen technische Neuerungen im Energiebereich. Sofern diese allen Seiten zu Gute kämen, könnten sie im Nahen Osten eine vergleichbare Rolle wie die 1951 gegründete „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ nach dem Zweiten Weltkrieg spielen.

Die Wasserknappheit im Nahen Osten wird jedenfalls nicht vom Jordanrinnsal behoben, egal, wem es gehört. Die Lösung des Wasserproblems liegt in der Meerwasserentsalzung, egal, von wem diese betrieben wird. Für diesen Paradigmenwandel wäre der Begriff Säkularität im Nahen Osten zu weitgehend, aber eine Zivilität, welche die Systeme Religion, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft unterscheidet, sollte möglich sein. 

Im September 2014 haben Israel und Jordanien einen Vorvertrag über die Lieferung von Erdgas abgeschlossen, worüber Israel zum wichtigsten Energielieferanten für Jordanien geworden ist. Die alte Feindschaft zwischen Israel, Ägypten und Jordanien ist längst über die Zwänge der Ökonomie und über den gemeinsamen Kampf gegen den Islamismus in eine noch etwas verschämte Kooperation übergegangen. Aus diesem Nukleus könnte eine neue Nahostordnung entstehen, in der den Funktionen und Interessen mehr Bedeutung beigemessen werden als Identitäten.

Schon in einer locker gefügten Wirtschaftsgemeinschaft wäre die Frage, wem das Westjordanland gehört, etwa so wichtig wie es heute in Europa die Frage ist, wem das Elsass oder Schlesien gehören. Über den Wirtschaftsfrieden könnte sich eine gemeinsame Rechtsordnung entwickeln, die den politischen Frieden befördert. Zwischen Israel und Palästina winken derzeit weder Zweistaaten- noch Einstaatenlösungen, sondern allenfalls ein Wirtschaftsfrieden, der irgendwann in supranationalen und föderalen Strukturen enden mag.

Vor oder nach der Katastrophe?

Ein Paradigmenwandel hätte Europa vor dem Ersten Weltkrieg bewahren können. Die nationalen Machtmotive jener Zeit waren, gemessen an den Aufgaben und Möglichkeiten der schon entstandenen Weltwirtschaft nicht nur moralisch fragwürdig, sondern auch dysfunktional.

Das alte Territorialdenken hätte beizeiten zugunsten einer transnationalen Zusammenarbeit in offenen Märkten und die kollektiven Identitäten zugunsten von ökonomischen Interessen relativiert werden müssen. Vermutlich wären evolutionäre Entwicklungen zur Demokratie dem Totalitarismus zuvorgekommen. Statt vor dem Ersten Weltkrieg kam dieser Paradigmenwandel erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Für den Nahen Osten stellt sich vor allem die Frage, ob der unvermeidliche Wandel zu neuen Kategorien vor oder nach einer großen Katastrophe kommt.  

Für eine Zivilisierung der Kulturen ist der Westen unverzichtbar

Der düsteren Dialektik von Katastrophe und Veränderung könnte im Nahen Osten nur ein Generationenwechsel zuvor kommen. Den individuellen Interessen stehen nicht nur der regressive Islamismus, sondern auch jene korrupte Patriarchen entgegen, die ein Durchsickern des Kapitals verhindern. Das Durchsickern von Know-how verhindert heute aber niemand mehr. Die verheerende demografische Lage wird die Jugendlichen dazu zwingen, ihren Platz gegen alte Herrschaften zu erkämpfen.

Der Westen kann derzeit nichts Besseres tun als seine  Ausbildungshilfen zu vervielfachen, von der Berufsausbildung bis zu wissenschaftlich-technischen Qualifikationen. Zwischen und vor allem über den Kulturen kann nur noch eine neue Mittelmeerzivilisation den Absturz in Chaos und Barbarei verhindern. Für eine Zivilisierung der Kulturen ist der Westen unverzichtbar. Je schneller er seine politischen Universalitätsansprüche zurücknimmt, desto schneller wird er als Transformationspartner akzeptiert werden.

Der Autor ist Professor an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Von ihm ist erschienen: Der Westen und sein Naher Osten. Vom Kampf der Kulturen zum Kampf um die Zivilisation, Reinbek 2015.

 

 

Heinz Theisen

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