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Teilnehmer einer rechten Demonstration in Berlin.

© IMAGO/Vasily Krestyaninov

„Eine Bilanz des Schreckens“: Opferberatungsstellen registrieren Höchststand bei rechter Gewalt

Gewalt von Rechten hat 2024 deutlich zugenommen. Die Opferberatungsstellen registrierten vor allem eine steigende Zahl von Angriffen auf politische Gegner und Attacken mit queerfeindlichem Motiv.

Stand:

Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt hat im vergangenen Jahr einen Anstieg um mehr als 20 Prozent bei Angriffen Rechter registriert. Das geht aus der am Dienstag vorgestellten Jahresbilanz des Verbandes hervor. Nach Zählungen der Beratungsstellen gab es damit durchschnittlich pro Tag zwölf Angriffe mit rechter Tatmotivation in der Bundesrepublik. Sie sprechen von einer „Bilanz des Schreckens“.

Der neue Hochstand hatte sich bereits in den vergangenen Wochen abgezeichnet, nachdem mehrere Opferberatungsstellen der einzelnen Bundesländer ihre Daten vorgestellt hatten. Der Verband der Beratungsstellen hat diese Zahlen nun zusammengefasst, lediglich die Länder Bremen, Rheinland-Pfalz und das Saarland fehlen in der Auflistung, weil hier keine exakten Zahlen vorliegen. Es ist also von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.

Laut der Beratungsstellen ist Rassismus bei mehr als der Hälfte aller Taten das dominierende Tatmotiv. Gleichzeitig zeigen die Zahlen einen dramatischen Zuwachs bei Angriffen auf sogenannte „politische Gegner“, die um zwei Drittel im Vergleich zum Vorjahr zugenommen haben. Auch bei queerfeindlichen Attacken beobachteten die Beratungsstellen einen Anstieg um 40 Prozent.

Neue Neonazi-Gruppen

Im Sommer vergangenen Jahres waren überall in der Bundesrepublik neue, jugendliche Neonazi-Gruppierungen entstanden, deren Hass sich vor allem gegen queere Menschen und Linke richtet. So kam es zu zahlreichen Störversuchen von Paraden zum Christopher Street Day, überwiegend im ländlichen Bereich. Dazu kamen verschiedene Attacken auf Wahlkämpfer rund um die Europa-, Kommunal- und Landtagswahlen.

Der Rechtsstaat darf die Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt nicht im Stich lassen.

Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt

In Dresden wurde der SPD-Politiker Matthias Ecke im Juni 2024 von Neonazis brutal angegriffen und schwer verletzt, im Juli die Cottbuser CDU-Politikerin Adeline Abimnwi Awemo rassistisch beleidigt und ebenfalls attackiert. Im Dezember prügelten junge Neonazis mit ihren Springerstiefeln auf zwei SPD-Wahlkämpfer in Berlin-Lichterfelde ein. Die Gruppe muss sich aktuell vor Gericht verantworten. Die drei Beispiele sind nur einige von vielen.

Appell an Polizei und Staat

„Der Rechtsstaat darf die Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt nicht im Stich lassen“, sagt Rechtsanwältin und Nebenklagevertreterin Seda Başay-Yıldız vom Verband der Beratungsstellen. Dazu gehöre, dass Polizei und Justiz alle Hinweise auf Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus als Tatmotive in den Ermittlungsverfahren und den „Wunsch vieler Betroffener nach vollständiger Aufklärung“ ernst nehmen müssten.

3453 
rechte Attacken zählten die Opferberatungsstellen im Jahr 2024.

Traditionell fällt die Statistik der Opferberatungsstellen wesentlich deutlicher aus als die sogenannte „PMK Rechts“ des Bundesinnenministeriums, also die offiziellen Zahlen der Polizeibehörden, die ebenfalls am Dienstag von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) vorgestellt werden. Das liegt auch daran, dass die Beratungsstellen auch Angriffe mit rechter Tatmotivation zählen, die beispielsweise nicht zur Anzeige gebracht werden.

Insgesamt ereigneten sich im vergangenen Jahr nach Angaben des Verbands 3453 Attacken mit 4681 Betroffenen. Besonders viele Gewalttaten wurden in den Ländern Berlin, Hamburg und Sachsen-Anhalt registriert. Allgemein fällt auf, dass die Zahlen in den ostdeutschen Bundesländern vergleichsweise höher sind.

Solingen im Fokus

Außerdem sprechen die Beratungsstellen für 2024 von neun Todesopfern durch rechte, rassistische oder antisemitische Gewalt. Besonders die Stadt Solingen in Nordrhein-Westfalen steht hier im Fokus. Bei einem Brandanschlag im März 2024 kam hier eine vierköpfige Familie ums Leben: ein 28-jähriger Mann, seine 29 Jahre alte Ehefrau sowie ihre beiden Töchter im Alter von drei Jahren und wenigen Monaten. 21 weitere Menschen wurden teilweise schwer verletzt.

Erst vor Gericht wurde ein mögliches rassistisches Motiv des Angeklagten bekannt. So wurden unter anderem 160 Nazi-Karikaturen und rassistische Bilder auf der Festplatte des Tatverdächtigen gefunden. Die Behörden haben den Anschlag bisher nicht als rechtsextrem motiviert eingeordnet.

Auch der islamistische Anschlag auf ein Stadtfest in Solingen im August vergangenen Jahres wird von den Beratungsstellen aufgeführt, weil der Täter auch aus antisemitischer Motivation gehandelt haben soll. Der 26-jährige Syrer mit Kontakten zum IS tötete drei Menschen mit einem Messer und verletzte acht weitere.

Ebenfalls in der Auflistung der Todesopfer zu finden ist ein Fall aus Gummersbach im Februar 2024. An einem Buswartehäuschen kam es zu einer tödlichen Messerattacke im Trinkermilieu. Vor Gericht berichteten verschiedene Zeugen von einem möglichen rassistischen Motiv des Angeklagten.

Dies liegt laut den Beratungsstellen auch bei einem Tötungsdelikt in Berlin-Gesundbrunnen vor, das sich im Juli ereignete. Beim Streit um einen Parkplatz wurde der 37-jährige Familienvater William N. aus Kamerun erstochen. Die Angehörigen gehen, anders als das Gericht, auch von einem rassistischen Motiv aus, das sich tatverstärkend ausgewirkt habe. Deswegen finde sich der Fall in der Auflistung, teilte der Verband der Beratungsstellen dem Tagesspiegel mit.

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