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Viele Verbindungen führen vom NS-Machtapparat in die Frühzeit bundesdeutscher Ministerien: Adolf Hitler winkt vom Balkon der Reichskanzlei der Menge zu.

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Die NS-Geschichte der Bundesministerien: Endlich sprechen die Akten

Welche Rolle spielten Ministerien und Behörden im "Dritten Reich"? Mit einem millionenschweren Auftrag will die Bundesregierung die Aufarbeitung forcieren.

Von Hans Monath

Selten hat ein historisches Buch die deutsche Öffentlichkeit so sehr aufgewühlt wie der Band "Das Auswärtige Amt und seine Vergangenheit". Als das von Außenminister Joschka Fischer (Grüne) in Auftrag gegebene Werk lange nach dessen Ausscheiden aus dem Amt im Oktober 2010 erschien, zeigten sich die Kommentatoren fast aller Leitmedien entsetzt darüber, wie stark das Ministerium in die nationalsozialistische Politik der Judenvernichtung eingebunden gewesen war und sich trotzdem nach 1945 als Hort des Widerstands stilisiert hatte. Dass der "Judenreferent" des Auswärtigen Amtes (AA) 1943 in einer Abrechnung als Reisezweck "Liquidation von Juden in Belgrad" angegeben hatte, erschütterte die Gemüter der Nachgeborenen nicht weniger als die Behauptung eines der Herausgeber des Bandes, wonach das AA wie die SS eine "verbrecherische Organisation" gewesen sei.

Ganz anders fiel die öffentliche Reaktion aus, als sechs Jahre später ein halbes Dutzend Geschichtsprofessoren ihre Untersuchung zur Geschichte des Wirtschaftsministeriums im 20. Jahrhundert vorlegten, das nach 1933 ebenfalls in die NS-Verbrechen eingebunden war. Kaum eine Zeitung nahm den Termin überhaupt zur Kenntnis, bei dem Anfang Dezember Ressortchef Sigmar Gabriel (SPD) das Werk über sein Haus würdigte. Einer der Herausgeber, Albrecht Ritschl, berichtete bei der Vorstellung der Bände, das Studium von Akten über zwischenministerielle Streitigkeiten zur Kostenübernahme für die Deportationszüge nach Auschwitz und andere Entdeckungen seien "traumatisierende" Forschungserfahrungen gewesen und hätten ihm schlaflose Nächte bereitet. An Material für öffentliche Empörung mangelte es also nicht.

Wahrscheinlich hat es gleich mehrere Gründe, wenn die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verflechtung eines Ministeriums und der Nachkriegskarrieren schwer belasteter Ministerialbeamter heute nicht mehr für ähnliche Empörung sorgt wie 2010. Beim angesehenen AA war die moralische Fallhöhe besonders hoch; mit dem Faktum von NS-Belastung in wichtigen Institutionen ist die Öffentlichkeit heute vertrauter; womöglich schwindet in unsicheren, stärker von Gewalt geprägten Zeiten auch das Interesse für die Gewaltgeschichte der Vergangenheit. Und schließlich bedienten die Wirtschaftsministeriums-Autoren anders als die AA-Forscher eben nicht mit Kampfbegriffen die mediale "Erregungsmaschinerie", wie Albrecht Ritschl bei der Vorstellung der eigenen Arbeit mit Blick auf die Rezeption von "Das Auswärtige Amt" betonte: "Wir haben diese Geschichte genau verfolgt und daraus gelernt."

Auch andere Historiker als Ritschl werden sich künftig der Erfahrung aussetzen, dass sie aus ministeriellen Akten der Hauch des Todes anweht. Denn die Bundesregierung hat jüngst vier Millionen Euro an Forschungsmitteln ausgelobt – für die historische Aufarbeitung der NS- Belastung der Bundesministerien und zentralen Bundesbehörden und ihrer Schwesterorganisationen in der DDR. Ein Viertel der Summe hat die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters (CDU), für die Geschichte des Kanzleramtes reserviert – "aufgrund seiner übergreifenden Bedeutung", wie es in der Ausschreibung heißt. Wer die Kanzler-Mittel gewinnt, wird sich dann auch mit der Rolle von Konrad Adenauers Kanzleramtschef Hans Globke beschäftigen müssen. Der Verfassungsjurist hatte die Nürnberger Rassegesetze mitverfasst, galt später als "graue Eminenz" im Kanzleramt (1953 bis 1963) und war als Adenauer-Vertrauter das prominenteste Beispiel für die personelle Kontinuität von Verwaltungseliten des "Dritten Reiches" zur Bundesrepublik.

Die nun in Angriff genommene umfassende Aufarbeitung dürfte der vorläufige Endpunkt einer Entwicklung sein, die Joschka Fischer mit seinem Auftrag zur Erforschung der AA-Geschichte im Jahr 2005 ausgelöst hatte. Rund zwanzig Bundesministerien und Bundesbehörden haben seither Historikerkommissionen zur Untersuchung der NS-Vergangenheit ihrer Vorläuferorganisationen und ihres Umgangs mit NS-Kontinuitäten in der Nachkriegszeit eingesetzt.

Jüngste Ergebnisse sind neben der Geschichte des Wirtschaftsministeriums (Werner Abelshauser, Stefan Fisch, Dierk Hoffmann, Carl-Ludwig Holtfrerich, Albrecht Ritschl: Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917–1990) die Geschichte des Bundesjustizministeriums in der Anfangsphase der Bundesrepublik (Manfred Görtemaker, Christoph Safferling: Die Akte Rosenburg) sowie des Bundesnachrichtendienstes (unter der Herausgeberschaft von Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang Krieger, Rolf-Dieter Müller sind 2016 vier Bände erschienen) und des Verfassungsschutzes (Constantin Goschler, Michael Wala: Keine neue Gestapo). Nicht immer bestätigen die Forscher das öffentliche Bild einer Institution. So kommt der Bochumer Historiker Constantin Goschler zu dem Schluss, ehemalige SS- und Gestapo-Leute hätten zwar in den 50er und 60er Jahren manche Verfassungsschutz-Abteilung beeinflusst, am Anfang der Behörde habe aber "keine braune Seilschaft" gestanden.

Wie konnte die Bundesrepublik trotz vieler Kontinuitäten zur NS-Zeit das werden, was sie heute ist?

Die Oppositionsparteien Linke und Grüne hatten die Bundesregierung über Jahre hinweg immer wieder gedrängt, die NS-Geschichte aller Ministerien aufarbeiten zu lassen. Aber kann die Ausschreibung nun mehr liefern als eine Auflistung sehr ähnlicher Geschichten in unterschiedlichen Ministerien? Durchaus, meint zumindest Martin Sabrow. Es gehe nämlich nicht "um die Feststellung personeller Kontinuität im Sinne einer bloßen ,Nazi-Zählerei’", sagt der Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam. Sondern um die Klärung, "was eigentlich ,NS-Belastung’ überhaupt meint". Dahinter stehe die Frage, wie es ungeachtet personeller, inhaltlicher und institutioneller Kontinuitäten und nur wenigen Brüchen in der staatlichen Behördenstruktur gelungen sei, "dass die Bundesrepublik sich zu dem festen Bestandteil der westlichen Wertegemeinschaft entwickeln konnte, den sie heute bildet".

Institutsleiter Sabrow lobt ausdrücklich, dass die Grütters-Ausschreibung sich nicht auf die NS-Zeit beschränkt, keine zeitlichen Vorgaben macht und offen ist auch für Forschung zur Geschichte der DDR. Er hoffe, dass so "innovative Projektvorschläge und neue Betrachtungsansätze vor allem in vergleichender Perspektive" gestärkt würden, meint der Historiker, der an der Humboldt-Universität lehrt. Vieles, was als "NS-Kontinuität" gelte, seien in Wirklichkeit obrigkeitsstaatliche Traditionen, die bis in die Weimarer Republik, ins Kaiserreich oder noch länger zurückreichten.

Wer bei der Erforschung der Ministerien größere Zeiträume in den Blick nehme, könne etwa Querschnittsthemen wie die "Tradierung von Weltbildern, Mentalitäten, Prägungen und Verwaltungspraxen" erschließen. Was das Kanzleramt angeht, so glaubt Sabrow, sei die Rolle Hans Globkes gut erforscht. Trotzdem sei es wegen der herausgehobenen Stelle dieser Institution als zentrale Schaltstelle im Zusammenspiel mit den Ministerien wichtig, dessen Geschichte systematisch aufzuarbeiten.

Auftragsforschungen zur Vergangenheit von Firmen oder Institutionen sind von Historikern wegen der Gefahr von Abhängigkeiten immer wieder kritisiert worden – vor allem, wenn die Mittelgeber sich Forscher selbst aussuchen. Grütters Vier-Millionen-Ausschreibung, sagt der Bochumer Zeitgeschichtler Constantin Goschler, habe aus dieser Kritik zu lernen versucht und einen weitgehend transparenten und offenen Wettbewerb angeboten. Die Frist zur Einreichung von Forschungsvorhaben läuft Ende Februar ab. Entscheiden darüber, welche Untersuchungen finanziert werden, soll dann eine Jury, die aber noch nicht besetzt ist.

Der Text erschien zuerst in der Beilage "Agenda" des Tagesspiegels.

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