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Der Bundestag - wie sollen die Sitze dort besetzt werden? Und wie viele sollen es sein?

© Christoph Soeder/dpa

Reform des Wahlrechts: Endstation Chefsache

Die Wahlrechtsreform schien im Bundestag auf einen guten Weg zu kommen. Doch nun droht sie wieder in eine Sackgasse zu geraten. Eine Analyse.

Die Sache hatte sich eigentlich gut angelassen. Aber nun droht wieder, was die Wahlrechtsreform in Deutschland seit Jahren zu einer zähen, teigigen Angelegenheit gemacht hat: Der Bundestag könnte sich abermals verlieren in Stellschraubendreherei bei dem Versuch, das geltende Wahlrecht doch noch irgendwie zum Funktionieren zu bringen. Um damit das uferlose Aufblähen des Parlaments zu verhindern.

Als die drei Obmänner der Ampel-Fraktionen in der Wahlrechtskommission des Bundestags im Mai ein Reformmodell vorlegten, schien endlich eine der bisherigen Debattenhürden genommen zu sein: SPD, Grüne und FDP machten deutlich, dass sie künftig einen Bundestag mit verlässlich 598 Abgeordneten wollen – und dass sie sich nicht mehr auf das unselige Verringern der Zahl der Wahlkreise einlassen. Das klang wie ein Angebot an die Union. Zumindest war der Weg frei für eine vernünftige Debatte.

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Denn Parlamente sollten eine feste Größe haben. Ein Parlament, das sich selbst keine Grenze ziehen kann, was die Zahl der Sitze betrifft, setzt sich dem Verdacht aus, auch bei der Gesetzgebung die nötige Disziplin nicht wahren zu können. Mit der Festlegung auf 598 Sitze war klargestellt, dass diese Größe praktikabel ist.

Verhältniswahl mit Personalisierung

Dass die Ampel-Parteien einen eigenen Reformvorschlag vorlegten, ein sogenanntes Kappungsmodell, konnte im Mai noch als Versuch gewertet werden, der Debatte eine Richtung zu geben. Schon zuvor hatte die Ampel den Auftrag der Kommission vernünftigerweise darauf verengt, nach einem Reformmodell zu suchen, das weiterhin eine Verhältniswahl mit Elementen der Personalisierung verbindet. Für grundlegende Systemwechsel weg von der Verhältniswahl gibt es keine Mehrheit im Bundestag.

Was die Unions-Fraktion aber nicht interessiert. Dem Ampel-Vorschlag setzte sie das Grabensystem entgegen, mit dem der Bundestag je zur Hälfte per Mehrheits- und Verhältniswahl besetzt würde. Dieser harte Systemwechsel war in der vorigen Wahlperiode nur von einer Minderheit der Fraktion vertreten worden. Nun plötzlich wurde es zum Modell der Gesamtfraktion. Ampel und Union gerieten auf Konfrontationskurs.

Und damit war die Kommission gescheitert. Am Freitag endete die vorerst letzte Sitzung in allgemeiner Ermattung. Der Ende August vorzulegende Bericht wird das dokumentieren. Mit der Kommission war die Hoffnung verbunden, einen Konsens zu finden, um endlich wieder zu einem funktionierenden Wahlsystem zu kommen, das die Interessen aller einigermaßen bedient – was in einer Demokratie schließlich der Fall sein sollte.

Hopfen und Malz verloren

Nun spielt die Union beleidigte Leberwurst. In ihren Regierungsjahren war sie es, die eine vernünftige Reform verschleppt hat. In der Opposition verweigert sie sich nun auch. Hochmütig vor dem Fall, hochmütig danach. In Sachen Wahlrecht ist bei ihr mittlerweile offenbar Hopfen und Malz verloren.

Die Ampel wiederum steht jetzt mit ihrem Kappungsmodell da, das vielleicht nur als Einstieg in einen Kompromissfindungsprozess gedacht war. Das Modell – bei Überhängen werden die Direktmandate mit den schwächsten Erststimmenanteilen nicht zugeteilt – stammt zum einen aus der Mottenkiste. Seit Jahrzehnten ist es in der Debatte, in Bayern war es einige Jahre lang sogar Gesetz, aber es hat sich nirgendwo durchgesetzt.

Zum anderen ist es kein sauberes System, weil es einerseits die Mehrheitswahlkomponente in den Wahlkreisen beibehält, das Ergebnis dieser Mehrheitswahl dann jedoch korrigiert, wenn es zu Überhängen kommt – indem ein Kernmerkmal der Mehrheitswahl ausgehebelt wird, nämlich die Direktmandatsgarantie für die Wahlkreissieger. Über eine komplexe Ersatzstimmenregelung („dritte Stimme“) soll dennoch jeder Wahlkreis einen eigenen Abgeordneten haben. Ob das alles mit den Wahlrechtsgrundsätzen in Einklang zu bringen ist, wird man sehen – die Union will ja in Karlsruhe klagen.

Problematisches Modell

In jedem Fall ist das Modell problematisch. Und bei aller Kritik an der Haltung der Union, man muss auch da Verständnis haben. Die CSU hätte 2021 fast sämtliche Großstadtmandate nicht bekommen, ohne dass eine Kompensation über die Landesliste möglich gewesen wäre – die zog ja nicht. Sie kann dem Ampel-Modell so nicht zustimmen. Aber auch in der Koalition setzt Nachdenken ein. Die SPD muss damit rechnen, dass sie in der Fläche in ganzen Regionen ohne Mandate sein wird – eben immer da, wo sie schwache Direktmandate holt. Den Grünen könnte das auch einmal blühen, sollten sie weiter zulegen in den kommenden Jahren.

Etwas versteckt in den Papieren, um die es in dieser Woche im Bundestag ging, hat die Ampel schon angedeutet, auch wieder über Wahlkreiszahl, andere Parlamentsgröße, Verrechnung von Überhängen reden zu können. Eben die Stellschraubendreherei der Vorjahre.

736 Abgeordnete hat der Bundestag jetzt., 598 ist die Ausgangsgröße. Dahin will die Ampel zurück.
736 Abgeordnete hat der Bundestag jetzt., 598 ist die Ausgangsgröße. Dahin will die Ampel zurück.

© Imago/Christian Spicker

Im Grunde herrscht Erkenntnisverweigerung auf allen Seiten. Das geltende Wahlsystem ist nicht zu retten unter den aktuellen Bedingungen des Parteiensystems. Und mit denen werden wir mutmaßlich noch einige Wahlperioden zu tun haben. Wird Mehrheitswahl (als Mittel der Personalisierung) in eine Verhältniswahl integriert, die dann aber nicht die bei einer Mehrheitswahl üblichen Ergebnisse erbringt – dann gerät das System ins Wanken. Die Folge: Es kommt zu den berüchtigten Überhängen, die man entweder stehen lassen (Proporzverzerrung), ausgleichen (Aufblähung) oder kappen muss (nachträglicher Eingriff).

Es gibt andere Varianten

Dabei gibt es einige andere Varianten der personalisierten Verhältniswahl – die aber in der Kommission gar nicht diskutiert wurden. Diese Varianten laufen in der Regel darauf hinaus, auf die Mehrheitswahlkomponente zu verzichten. Aber dazu kann sich der Bundestag bisher nicht durchringen. Es ist ein Witz: Seit über hundert Jahren wird in Deutschland Verhältniswahl praktiziert. Das ist gefestigte, demokratische Wahlrechtstradition. Aber ein bisschen Mehrheitswahl soll irgendwie doch sein. Obwohl sie der Störfaktor ist.

Und nun? Können die einen trotzig voranschreiten, mit dem Risiko, in Karlsruhe zu scheitern. Und die anderen können sich trotzig verweigern und klagen, mit dem Risiko, dass das Verfassungsgericht doch anders entscheidet. In der Situation sind nun wohl die Fraktionsführungen gefragt. Und die Bundestagspräsidentin.

Bärbel Bas hat sich bisher klug herausgehalten, wegen der schlechten Erfahrungen ihrer Vorgänger Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble, die beide mit ihren Versuchen erfolglos blieben, eine Reform mit dem Gewicht des eigenen Amtes anzustoßen. Da die Wahlrechtskommission kein befriedigendes Ergebnis gebracht hat, bleibt wohl alleine der Weg, die Wahlrechtsreform wieder zur Chefsache zu machen.

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