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Politik: Ermattet von Rot-Grün Von Tissy Bruns

Schon oft musste die rotgrüne Koalition Wahlniederlagen ins Auge sehen, zuletzt im Superwahljahr 2004. Immer galt: Augen zu und durch.

Schon oft musste die rotgrüne Koalition Wahlniederlagen ins Auge sehen, zuletzt im Superwahljahr 2004. Immer galt: Augen zu und durch. Wenige Tage vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen keimt noch ein Hoffnungspflänzchen; doch mit der Mattheit erschöpfter Kämpfer rechnet die Bundesregierung mit einer Niederlage. „Nach NRW“ wird ein politischer Sturm losbrechen. Dabei würde ein Wechsel in NRW für den Bundesrat qualitativ nichts Neues bedeuten. Nervenstarke Koalitionäre setzen darauf, dass man die öffentliche Debatte um Neuwahlen und große Koalition aussitzen muss, um ab Herbst die drohende „schwarze Republik“ für die Bundestagswahl auszureizen. Doch das ist eine zu kühle Rechnung. Sie übersieht, welcher Zauber von Ende und Neuanfang in der Politik ausgeht.

Dass etwas zu Ende ist, hat der SPD-Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen selbst deutlich gemacht. Zweimal, zu Beginn seiner Amtszeit und zum Auftakt des heißen Wahlkampfs, hat Peer Steinbrück symbolische Distanz zu den Grünen gesucht. Der Aufschrei des rot-grünen Milieus kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Steinbrück damit einen Punkt richtig getroffen hat: Der Mainstream der SPD-Wähler glaubt nicht mehr daran, dass Rot-Grün in diesen Zeiten die beste Konstellation ist. Mangels tragfähiger Ideen hat die Verzweiflung über die Arbeitslosigkeit die Sehnsucht nach der alten Industrie- und Wachstumsfreundlichkeit belebt. Sie drückt sich auch in Franz Münteferings Heuschreckenszenario aus, das den Geist der guten Unternehmer gegen den der neuen Profitjäger hochhält.

Sehnsüchte mögen politisch wenig taugen. Aber ganz von der Hand zu weisen ist ja nicht, dass Schröders Agenda keine politische Substanz ziehen konnte aus dem, was früher vage als „rot-grünes Projekt“ beschrieben wurde. Die sozialen Fragen waren schon 1998 mit einer Wucht zurückgekehrt, die in den Träumen von der postmateriellen Toleranzgesellschaft nicht vorgesehen war. Hinter dem Rücken der Wähler hat Rot-Grün deshalb die Sozialreformen begonnen. Schon da hat in aller Stille die Abenddämmerung des rot-grünen Projekts stattgefunden. Weil Verteilungsfragen die grünen Mittelschichten relativ kalt lassen, die sozialdemokratischen Wähler aber existenziell berühren, ist die Erosion von Rot-Grün im Kern eine Vertrauenskrise der SPD.

Steinbrücks Abrücken war deshalb eine vergebliche Ersatzhandlung. Die Sozialreformen müssen sein, das hat die Auseinandersetzung um Schröders Agenda als Erkenntnisgewinn gebracht. Dass man sie auch ganz anders machen könnte, diese Suggestion hat der SPD-Chef mit der Kapitalismuskritik in die Welt gesetzt. Der SPD hilft sie wenig. An diese Heuschrecken glauben die Bürger wie ans Unwetter: Keiner kann was daran ändern.

Wenn die SPD Nordrhein-Westfalen verliert, wird Münteferings Kritik aber die Kurswechsel-Diskussion befeuern, die ohnehin in der Luft liegt. Man weiß, wie sozialdemokratische Funktionäre solche Diskussionen führen: ohne Rücksicht auf den Machtverlust. Ob Schröder seine schwache Mehrheit im Bundestag bei den Abstimmungen über Unternehmen- und Erbschaftsteuer noch realisieren kann? Dann aber können Diskussionen über Neuwahlen und große Koalition schnell zu realer Politik werden, so unwahrscheinlich sie zunächst sein mögen. Und wenn die SPD nach einem Kurs zwischen Agenda und Heuschrecken sucht, dann droht der schlimmste Fall, Führungsstreit. Nach einem Wechsel in Nordrhein-Westfalen hat die SPD nur noch eine Karte: Gerhard Schröders Potenzial, es mit dem Rücken an der Wand allen noch einmal zu zeigen. Nur davon hängt ab, ob die Union sich zu den Fehlern übermütiger Sieger hinreißen lässt.

Ist die Kanzlerkandidatur wirklich entschieden, wenn Jürgen Rüttgers zum Machtfaktor in der CDU wird? Über die Wahlstrategie wird er sicher mitreden. Kaum anzunehmen, dass die dann genug hergibt für das schwarze Schreckensbild sozialer Kälte. Schröder wird ein Gejagter sein.

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