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Zu wenig Betten, zu wenig Personal: Die Kliniken Norditaliens sind überlastet.

© Reuters/Flavio Lo Scalzo

Update

Fast 400 Corona-Tote an einem Tag: „Wir halten nicht mehr lange durch“ – Norditaliens Kliniken stehen vor dem Kollaps

In Italien herrscht ein dramatischer Mangel an Betten für die Intensivpflege. Der Ärzteverband schlägt Alarm: Ein Zehntel des Personals ist selbst infiziert.

Am Samstag um 12 Uhr sind hunderttausende Italiener auf die Balkone ihrer Wohnungen getreten, um zu klatschen: Der langanhaltende Applaus galt dem medizinischen Personal im ganzen Land, das in diesen Tagen beinahe Übermenschliches leistet, um den immer zahlreicheren Covid-19-Patienten zu helfen und sie in den überlasteten Intensivstationen am Leben zu erhalten.

Ärzte, Krankenschwestern Pfleger, medizinisches Hilfspersonal, Medizinstudenten: Sie sind längst zu den neuen Helden Italiens geworden.

Die Fallzahlen nehmen trotz drastischer Quarantäne-Maßnahmen weiterhin zu: Bis zum Sonntag wurden 24.747 Menschen positiv auf das Virus getestet – insgesamt wurden 120.000 Tests gemacht.

Aktuell leben 20.603 positiv Getestete im Land. 1809 der Infizierten sind gestorben – allein 369 am Sonntag. 1672 Covid-Patienten befinden sich auf der Intensivstation. Die Sterblichkeitsrate, also das Verhältnis zwischen Ansteckungen und Todeszahlen, bleibt mit aktuell 7,3 Prozent sehr hoch.

Trotz der Hingabe und der Selbstaufopferung des medizinischen Personals stehen die Intensivstationen der am meisten betroffenen Region Lombardei kurz vor dem Kollaps. Landesweit haben sich bereits mehr 1600 Ärzte und Pflegerinnen und Pfleger selber mit dem Coronavirus angesteckt.

Der Dachverband ärztlicher Berufsvereinigungen schlug am Sonntag in einem Brief an Minsterpräsident Giuseppe Conte Alarm: 1674 infizierte Krankenschwestern, -pfleger, Ärztinnen und Ärzte, das heiße, "wir sprechen von zehn Prozent der im Gesundheitssystem Tätigen, die entweder schon gestorben sind oder aber nicht mehr arbeiten können. Das ist eine Situation, die wir uns nicht leisten können!" schrieb Filippo Anelli. Seinem Brief lässt sich entnehmen, dass er den Mangel an Schutzmaterial für den massiven Ausfall verantwortlich macht. Conte selbst habe zugegeben, dass "unerlässliche Schutzkleidung" derzeit fehle oder rationiert sei, auf jeden Fall nicht ausreichend verfügbar. Im einzelnen nennt der Ärztefunktionär Handschuhe, ffp3-Masken, Kittel, Schutzbrillen und Überkleidung. Wenn sie fehlten, müsse man Prioritäten setzen. "Es ist offensichtlich, dass alles Verfügbare zuerst an Ärzte an der Front ausgegeben werden müssen und an die Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern, die Covid-19-Kranke versorgen, an ärztliches Notfallpersonal, an die Spezialversorgungsteams und dann an alle anderen."

„Der Moment ist nah, an dem wir keine freien Betten in den Intensivabteilungen mehr haben werden“, erklärte der Regionalpräsident der Lombardei, Attilio Fontana. Seine Region ist weiterhin die am schwersten betroffene, gefolgt von der Emilia-Romagna, dem Veneto, den Marken, Piemont und der Toskana. Am Sonntag wurden auch die ersten Corona-Toten aus Sardinien (zwei) und Kalabrien (eine Person) gemeldet.

Krematorien stellen auf 24-Stunden-Betrieb um

Allein am Samstag wurden in die Spitäler der Lombardei weitere 85 Covid-19-Patienten eingeliefert, die Intensivpflege benötigten – doppelt so viele wie noch vor einer Woche. Am Sonntag waren die freien Plätze an einer Hand abzuzählen. „Es gelingt uns zwar, täglich 20 bis 25 neue Plätze zu schaffen – aber wir stehen kurz vor dem Point of no return“, betonte auch der lombardische Gesundheitsminister Giulio Gallera.

Besonders dramatisch ist die Situation in den Provinzen Bergamo und Brescia, die inzwischen als die beiden wichtigsten Infektionsherde des Landes gelten. Aus Bergamo werden täglich rund 300 neue Fälle gemeldet, in Brescia sind es etwa 250; etwa jeder zehnte von ihnen benötigt Intensivpflege oder muss zumindest mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt werden.

Die Italiener feiern ihre neuen Heldinnen und Helden: Das medizinische und pflegende Personal in den Kliniken.
Die Italiener feiern ihre neuen Heldinnen und Helden: Das medizinische und pflegende Personal in den Kliniken.

© AFP/Andreas Solaro

„Wir müssen jeden Tag neue Covid-19-Patienten intubieren und sind pausenlos im Einsatz“, berichtete am Sonntag Ivano Riva, der Chef der Reanimationsabteilung des Stadt-Spitals Giovanni XXVIII. „Wir halten nicht mehr lange durch.“ In einer einzigen Woche sind dem Coronavirus in den beiden Provinzen mehr als 400 Menschen zum Opfer gefallen, in Bergamo bis zu 61 pro Tag. Die Krematorien in den beiden Provinzen haben auf 24-Stunden-Betrieb umgestellt.

In Brescia soll ein Feldlazarett für 200 Lungen-Patienten entstehen

Bisher wurden die neuen Kapazitäten in der Intensivmedizin durch Reorganisationen innerhalb der Spitäler geschaffen: Ganze Abteilungen wurden geräumt und zu Stationen der Intensivtherapie umfunktioniert. Doch der Schließung bestehender Abteilungen zugunsten der Covid-19-Patienten sind Grenzen gesetzt: Die medizinische Betreuung der anderen Kranken muss ebenfalls sichergestellt werden.

Deshalb wird inzwischen auch die Einrichtung von Feldlazaretten erwogen. In Brescia soll auf dem Messegelände in den nächsten Tagen ein neues Lazarett für 200 Lungen-Patienten entstehen. Dasselbe plant auch Regionalpräsident Attilio Fontana in der "Fiera di Milano". Dort sollen 500 Betten für Covid-19-Patienten geschaffen werden.

Das Problem ist, wie Fontana einräumen muss: Derzeit sind weder die erforderlichen Beatmungsgeräte vorhanden, noch kann kurzfristig genügend medizinisches Personal rekrutiert werden, das in diesen Feldspitälern eingesetzt werden könnte.

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Und so musste sich das medizinische Personal in vielen Krankenhäusern Norditaliens bereits an eine neue Abkürzung gewöhnen: „NCR“. Das steht für „non candidabile alla rianimazione“ - und bedeutet soviel wie: „Kann nicht in der Reanimation aufgenommen werden.“.

Der sich täglich zuspitzende Mangel an Betten in den Intensivstationen führt dazu, dass die Ärzte in Einzelfällen bereits über Leben und Tod entscheiden müssen: „Wenn jemand zwischen 80 und 95 Jahre alt ist und große Atemprobleme hat, reservieren wir die wenigen noch vorhandenen Plätze in den Intensivstationen für Patienten mit größeren Überlebenschancen. Das gleiche gilt, wenn eine mit dem Virus infizierte Person eine Insuffizienz in drei oder mehr lebenswichtigen Organen aufweist“, erklärte der Narkosearzt Christian Salaroli aus Bergamo schon vor einigen Tagen. Diese Patienten kommen in der Regel direkt in die Palliativ-Medizin, also in die Abteilung der Sterbenden.

Das Klinikpersonal arbeitet durch und ist auch psychisch am Ende der Belastbarkeit

Das Personal in den Krankenhäusern, das zum Teil 18-Stunden-Schichten leistet und kaum noch einen freien Tag hat, ist an der Grenze der physischen und psychischen Belastbarkeit angelangt. „Die Patienten, die uns mit angstvollen Augen ansehen, brechen mir das Herz“, sagte die Mailänder Pflegefachfrau Maria Cristina Settembrese gegenüber dem „Corriere della Sera“.

Sie berichtete von einem 48-jährigen Covid-19-Patienten, der gerade intubiert und dafür in Narkose versetzt werden sollte: „Er hat mir die Hand gegeben und gesagt: Schwöre mir, dass ich wieder aufwachen werde. Ich habe zwei Kinder.“ Sie habe den ganzen Tag an ihn denken müssen; ihre Schutzmaske sei nass gewesen von den Tränen.

Darum ist das Ergreifen von frühen Maßnahmen so wichtig: Hintergrund zur Ausbreitung des Coronavirus - #flattenthecurve
Gelingt es, die Ausbreitung eines Virus zu verlangsamen, würden zwar gleich viele Menschen infiziert, allerdings über einen längeren Zeitraum hinweg. So ließe sich der Zusammenbruch des Gesundheitssystems vermeiden.

© Tagesspiegel/Katrin Cremer

Auf 60 Millionen Einwohner kommen ganze 5000 Intensivbetten

Das Gesundheitssystem Italiens war zumindest bezüglich der Intensivmedizin schlicht nicht auf die Corona-Krise vorbereitet: Für 60 Millionen Einwohner stehen im ganzen Land nur 5200 Plätze in Intensivstationen zur Verfügung, die aufgrund ihrer Knappheit schon vor der Corona-Krise fast vollständig ausgelastet waren. In Deutschland mit seinen 80 Millionen Einwohnern sind es rund 30.000.

Besorgniserregend ist die Situation vor allem im Süden Italiens: Sollten im Mezzogiorno die Fallzahlen ebenfalls massiv ansteigen - was sie derzeit zum Glück noch nicht tun - droht laut einhelliger Expertenmeinung innerhalb von kurzer Zeit eine medizinische Katastrophe.

Experten erwarten, dass der Höhepunkt der Krise in vier Wochen überschritten wird

Die Schaffung neuer Plätze in der Intensivmedizin ist ein Wettlauf gegen die Zeit: Laut einer in diesen Tagen in der britischen Wissenschaftszeitschrift „Lancet“ veröffentlichten italienischen Studie wird die Zahl der Infizierten in Italien ihren Peak voraussichtlich in etwa drei bis vier Wochen erreichen; bis zu diesem Zeitpunkt seien mindestens 4000 neue Betten auf Intensivstationen erforderlich.

Die Regierung von Giuseppe Conte hat zwar schon vor einer Woche Kredite für die Neueinstellung von 20.000 Personen im Gesundheitsbereich gesprochen, und in Kürze soll ein weiterer Kredit für die Beschaffung von 5000 zusätzlichen Beatmungsgeräten bewilligt werden. Doch die bange Frage lautet: Können die 4000 benötigten Plätze rechtzeitig zur Verfügung gestellt werden? Und vor allem: Werden sie ausreichen? Und wenn sie ausreichten: Die Ärzte in Bergamo haben zudem darauf aufmerksam gemacht, dass auch Personal fehle, die technische Infrastruktur zu bedienen.

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