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Eine Rakete vom Typ Fateh-110 wird bei einem iranischen Raketentest 2010 abgefeuert. (Archivbild)

© Foto: imago stock&people

Fateh-110 und Zolfaghar: In seinem „strategischen Luftkrieg“ setzt Russland jetzt auf Raketen aus Teheran

Der Iran avanciert zum wichtigsten Waffenlieferanten Russlands. Auch Raketen will Teheran nun offenbar nach Moskau verkaufen. Russlands prekäre Munitionssituation könnte das entspannen.

Allein am vergangenen Montag feuerte das russische Militär 80 Raketen auf ukrainische Städte - darunter einige, die nicht in der Nähe der Front liegen und somit keine militärische Relevanz besitzen. Vergeltungsangriffe für den Anschlag auf die für Russland strategisch wichtige Krim-Brücke zwei Tage zuvor.

In welcher Größenordnung sich die Attacken an eben jenem Montag bewegten, wird deutlich, wenn man sie in Relation zu den Zahlen des russischen Raketen-Arsenals setzt, die der ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Reznikov zuletzt veröffentlichte.

Von seinen insgesamt 1844 Präzisionsraketen habe Russland bereits mehr als zwei Drittel verfeuert; nur noch 609 wären demnach übrig, schrieb Reznikov bei „Twitter“. Besonders bei den Boden-Boden-Raketen für das Waffensystem Iskander herrscht offenbar Knappheit. Von anfänglich 900 sei der Bestand seit Kriegsbeginn auf 124 Raketen zusammengeschrumpft.

Aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit von über 2400 Kilometern pro Stunde sind die Präzisions-Marschflugkörper besonders schwierig abzufangen. „Die Russen besitzen einige dieser Raketen, aber ihre Vorräte sind erschöpft, manche Schätzungen gehen von 80 Prozent aus“, erläutert Mark Cancian, Militärexperte beim Center for Strategic and International Studies (CSIS), gegenüber dem „Spiegel“. Deswegen sehe man nur sporadische Raketenangriffe – so wie vor einer Woche.

Selbst nachproduzieren kann Russland die Raketen in großer Stückzahl nicht. Es fehlt die westliche IT in Form von Mikrochips, die wegen der westlichen Sanktionen nicht mehr importiert werden können.  „Schon vor dem Krieg haben sie nur 100 bis 150 im Jahr produziert. Also können sie selbst mit der Vorkriegsproduktion ihre Bestände nicht auffüllen“, beschreibt Cancian Russlands schwierige Lage.

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Für den ukrainischen Verteidigungsminister sind die Folgen unterdessen offensichtlich. „Durch den Einsatz von Hunderten von Hochpräzisionsraketen gegen zivile Objekte in der Ukraine verringert der Aggressor seine Fähigkeit, militärische Ziele zu treffen“, analysiert Reznikov. Russlands militärische Niederlage sei deswegen unvermeidlich.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Ukraine über russische Nachschubprobleme insbesondere bei Präzisionsraketen berichtet. Bereits im Mai machten ähnliche Meldungen die Runde. Dass sich die russischen Lager nun tatsächlich immer schneller leeren, darauf deutet auch ein Bericht der „Washington Post“ hin. Neue Präzisionsraketen sollen demnach vor allem aus Teheran kommen.

Unter Berufung auf US-Geheimdienstberichte bereitet der Iran eine erste Lieferung von Fateh-110- und Zolfaghar-Raketen vor, zwei ballistische Kurzstreckenraketen aus iranischer Produktion, die eine Reichweite von 300 beziehungsweise 700 Kilometern besitzen.

Der Iran würde seine Position als Unterstützer Russlands durch derartige Waffenexporte deutlich ausweiten. Nachgewiesen sind bisher lediglich Exporte von unbemannten Kamikaze-Drohnen vom Typ Schahed-136. An der Front verursachten sie laut ukrainischen Angaben zum Teil massive Schäden.

Der Schritt von Drohnen zu Boden-Boden-Raketen könnte den Russen mehr Möglichkeiten und eine größere Schlagkraft verleihen.

Farzin Nadimi, Expertin für iranische Waffen am „Washington Institute for Near East Policy“

Doch welchen Einfluss hätten die iranischen Raketen auf das Kriegsgeschehen? „Der Schritt von Drohnen zu Boden-Boden-Raketen könnte den Russen mehr Möglichkeiten und eine größere Schlagkraft verleihen“, meint Farzin Nadimi, Expertin für iranische Waffen am „Washington Institute for Near East Policy“, gegenüber der „Washington Post“.

Der Iran verfüge über eines der größten und vielfältigsten Arsenale an Kurz- und Mittelstreckenraketen im Nahen Osten. Obwohl die iranischen Waffenkonstrukteure mit Zuverlässigkeitsproblemen zu kämpfen hätten, würden die neuesten Versionen der Fateh-110 und der Zolfaghar sowohl als leistungsfähig als auch einigermaßen präzise auf relativ kurze Entfernungen gelten, so Nadimi.

Einige Fateh-100-Modelle seien sogar mit elektrooptischen Lenksystemen ausgestattet, die es den Angreifern ermöglichen, sie im Endanflug auf das Ziel zu steuern.

Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) bewertet den Einfluss iranischer ballistischer Raketen gegenüber dem Tagesspiegel ähnlich, sieht allerdings keinen Grund für eine „Wunderwaffenanpreisung“. Vor allem die Raketen des Typs Zolfaghar würden bei der Navigation kommerzielle GPS-Kanäle benutzen, was zu einer eingeschränkten Präzision führe.

Für Angriffe auf Ziele mit einer gewissen Flächenausdehnung wie beispielweise Raffinerien seien die Raketen aber durchaus geeignet.

In der Vergangenheit lieferte das Regime in Teheran Raketen des gleichen Typs bereits an die Terror-Miliz Hisbollah im Libanon sowie Bürgerkriegspartei Huthie im Jemen-Konflikt. „Die Massenfertigung dürfte demnach kein größeres Problem sein“, analysiert der ECFR-Experte.

Ein Gebäude im Kiewer Stadtteil Schewtschenko nach der Zerstörung am Morgen.
Ein Gebäude im Kiewer Stadtteil Schewtschenko nach der Zerstörung am Morgen.

© Fotos: TSP/Victoria Ivleva

Wie aber könnte Putin planen, die neuen Waffen einzusetzen? Im Vergleich zu den langsameren, aber präzisieren Shahed-136 Drohnen seien Fateh-110 und Zolfaghar deutlich schwerer abzuschießen. Russland setzt aus Sicht Gressels deswegen auf eine Kombination der beiden Waffensysteme, um gegen die Ukraine einen „strategischen Luftkrieg führen zu können“.

Stromversorgung, Wasserversorgung, Rüstungsindustrie, technischen Industrie, öffentliche Leistungen wie Krankenhäuser und Schulen, all das nimmt Russland, ähnlich wie im Syrien-Krieg, unterstützt durch die Waffenimporte verstärkt ins Visier.

Was das konkret bedeutet, erlebten die Bürger Kiews am Montagmorgen. Mitten im Berufsverkehr und zum zweiten Mal binnen einer Woche, schlugen laut ukrainischen Angaben Kamikaze-Drohnen in der Metropole ein. Immerhin: Von 28 Drohnen konnten 23 abgefangen werden.

Russland hat am Montagmorgen Kiew erneut mit Drohnen angegriffen.
Russland hat am Montagmorgen Kiew erneut mit Drohnen angegriffen.

© dpa/Roman Hrytsyna

Bürgermeister Vitali Klitschko teilte mit, es seien mehrere Wohngebäude beschädigt worden. Mindestens drei Menschen wurden getötet. Auch aus anderen Städten wurden Angriffe gemeldet, bei denen Menschen ums Leben kamen.

Heizen Raketenlieferungen aus dem Iran die Raketen-Debatte in den USA weiter an?

Sollte der Iran tatsächlich Raketen mit derart großer Reichweite an Russland liefern, dürfte das auch die Debatte um US-Raketenlieferungen an die Ukraine weiter befeuern.

Seine von Russland gefürchteten Himars-Systeme kann Kiew derzeit nur auf Ziele in einem Umkreis von 80 Kilometern abfeuern: Mehr gibt die von den USA gelieferte Munition nicht her.

300 bis 500 Kilometer wären jedoch mit den entsprechenden Raketen problemlos möglich. Ein Schritt, den Washington bisher scheut, vor allem aus Sorge, Russland könnte dies als direkte Kriegsbeteiligung werten.

Nordkorea bietet sich als Waffenlieferant für Russland an, auch Belarus soll Munition liefern

Auf seiner Suche nach Munitionsnachschub wendet sich Russland aber nicht nur in Richtung Iran, sondern Geheimdienstberichten zufolge auch an Nordkorea. Ein Umstand, der Gressel im Gespräch mit dem Tagesspiegel bereits im September wenig überraschte. Nordkorea stehe genauso wie der Iran in der Schuld Russlands – daher müssten sie nun liefern, sagt er.

Im Fall Nordkoreas geht das besonders reibungslos, denn das Land stützt sich seit Jahren auf Waffen aus sowjetischer Produktion und hat viele Systeme aus dieser Zeit im Einsatz. So geht aus dem „Military Balance Report 2022“ hervor, dass Nordkorea etwa die sowjetische 122-mm-Haubitze D-30 besitzt. Genauso wie 120-mm-Mörsermunition (M-1943). 

Nordkoreanische ballistische Raketen waren über Jahrzehnte russisch – alle wichtigen Komponenten, vor allem Triebwerke, kamen aus Russland. Erst seit Mitte der 2010er taucht auch China als Lieferant von Feststoffraketen auf“, sagt Gressel.

Auch nordkoreanische und iranische „Eigenentwicklungen“ im Bereich Radare, Fliegerabwehrraketen oder Panzerabwehrwaffen seien russisch und würden nur in Nordkorea oder dem Iran neu lackiert. Manche seien sogar aus russischen Bauteilen zusammengesetzt und würden als Eigenentwicklung angepriesen, erklärt Gressel.

Züge voller Militärgerät rollen Richtung Russland

Währenddessen kratzt Russland auch im Versallenstaat Belarus Munitionsreste zusammen. Analysten des Institute for the Study of War (ISW) bestätigten zuletzt Berichte des ukrainischen Militärs, wonach Waffen, Ausrüstung und Munition aus Belarus geliefert werden.

Dem Institut zufolge gibt es öffentlich zugängliche Daten, die nahelegen, dass Russland derzeit Züge belädt, die von Belarus aus südlich und östlich gelegene Einsatzgebiete in der Ukraine versorgen sollen.

Die Experten gehen allerdings nicht davon aus, dass diese Aktivitäten ausreichen, um „Bedingungen für einen groß angelegten russischen oder belarussischen Bodenangriff“ gegen die Ukraine von Belarus aus schaffen.

Der ukrainische Militärgeheimdienst (GUR) hatte zuvor gemeldet, dass ein Zug mit 492 Tonnen Munition aus einem belarussischen Raketen- und Munitionslager in Gomel auf der Krim eintraf. Dem Nachrichtendienst zufolge sollen außerdem 13 weitere Züge mit Waffen, Ausrüstung und anderem nicht näher bezeichneten Material nach Rostow in Russland geschickt werden.

Wie viele militärische Güter Russland aus welchen Quellen insgesamt bezieht, darüber gibt es nur vage Informationen. Dass der Bedarf groß ist, machen die jüngsten Meldungen allerdings deutlich.

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