
© EU/Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
Gelbwesten-Proteste: „Fehler einer losgelösten politischen Elite“
Woher kommen die Proteste der Gelbwesten? Darüber sprach EurActiv mit Luca Jahier, dem Präsidenten des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses.
Stand:
Herr Jahier, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, dessen Präsident Sie sind, vertritt sowohl Arbeitgeberverbände als auch Gewerkschaften. Was ist in Frankreich schief gelaufen, woher kam die Wucht der Gelbwesten-Proteste?
Der Grund für die Aufstände ist meiner Meinung nach eine tiefsitzende soziale, territoriale und wirtschaftliche Not, die seit Langem andauert und die bisher noch nicht bis zum Grunde erkundet worden ist. In Frankreich gibt es ein großes Gefühl von sozialer Ausgrenzung, in vielen Regionen fühlt man sich ungehört von den Eliten in Paris. Es ist höchst erstaunlich, dass Macron nicht schon über die Revolte der Eisenbahner gestolpert ist, frühere Regierungen mussten angesichts derer Forderungen schon große Eingeständnisse machen. Auch bei den Protesten gegen die Arbeitsmarktreform ist er standhaft geblieben. Aber mit der Erhöhung der Spritpreise hat Macron einen großen Fehler gemacht. Das hat er auch zugegeben: Er hat versucht, einen gesellschaftlichen Wandel, in diesem Fall die Energiewende, in Form einer Steuer durchzusetzen. Aber diese Besteuerung trifft vor allem Menschen der unteren und der Mittelklasse. Das zu ignorieren war ein Fehler einer losgelösten politischen Elite.
Werden die Proteste von der Opposition instrumentalisiert?
Natürlich ist das ein gefundenes Fressen für die Opposition. Aber der Protest kommt nicht aus ihr heraus, sondern aus der Wut der Bevölkerung. Die Bewegung ist nicht künstlich geschaffen worden, anfangs war es eine ganz einfache Protestreaktion mit der Idee „Wir blockieren die Straßen.“ Dahinter stehen Menschen, die vielleicht nicht direkt in Armut leben, die aber Probleme haben, trotz zweier Jobs über die Runden zu kommen. Bei denen es ein finanzielles Desaster bedeuten kann, wenn die Zahnarztrechnung kommt. Diese Menschen machen einen großen Teil der Bevölkerung aus, und man darf die Enttäuschung dieser sozialen Schichten nicht unterschätzen. Dass so etwas dann von oppositionellen Kräften verwendet wird, ist klar. Es hat zweifellos bei den Märschen in Paris faschistische und rechtsextreme Infiltrationen gegeben. Wie stark genau, das wird sich im Nachhinein noch zeigen, es wurden ja viele Leute verhaftet.
Sind die Proteste der Preis, den es für Reformen in Frankreich zu zahlen gilt, oder hat Macron den Bogen einfach überspannt?
Ich will Macrons Reformen nicht beurteilen. Strukturelle Änderungen sind notwendig. Aber sie müssen gut kommuniziert werden, und es braucht Instrumente, um sie zu begleiten. Mit einer Steuererhöhung war weder den Bürgern noch der Umwelt geholfen, denn die Menschen können sich keine teuren Elektroautos leisten und bleiben stattdessen bei ihrem alten Diesel. Wäre es zur Erhöhung der Ökosteuer gekommen, hätten sie mehr zahlen müssen. Es braucht daher begleitende Maßnahmen für solche Reformen. So wie die Reformen in der Höhe von zehn Milliarden Euro, die Macron nun angekündigt hat.
Wie sieht es auf EU-Ebene aus? Wird dort genug getan, um soziale Ungerechtigkeiten anzugehen?
Die EU-Kommission tut, was sie mit ihrem beschränkten Budget tun kann. Der Juncker-Plan zum Beispiel war ein fantastischer Schritt. Dennoch hagelt es Kritik, man dürfe doch nicht öffentliche mit privaten Geldern mischen, und überhaupt wollen die Mitgliedsstaaten ihre Autonomie in Sachen Gesundheitsvorsorge oder Arbeitsrecht behalten. Aber das Prinzip funktioniert zweifellos! 15 Milliarden Euro von der Kommission und 39 Milliarden an Garantieren von der europäischen Investitionsbank generieren 600 Milliarden Euro an privaten Investitionen für die Wirtschaft. Davon profitieren auch der soziale Sektor, Krankenhäuser oder Schulen.
Sie sagen, dass das Budget der EU beschränkt ist. Wie müsste denn ein funktionierender Etat für die nächste EU-Haushaltsperiode zwischen 2021 und 2027 ausgestattet sein?
Tatsächlich halte ich den Vorschlag der Kommission für extrem unambitioniert. Er umfasst rund 1,1 Prozent des Bruttonationaleinkommens der EU. Wir bräuchten aber mindestens – und das sage ich ganz klar – mindestens drei Prozent des Bruttonationaleinkommens. Angesichts der neuen Prioritäten wie Sicherheit, Migration, Investitionen in Digitales und in Forschung, welche die Kommission selbst formuliert hat, benötigen wir mehr Geld. Doch wenn man den Etat nicht erhöht, muss man eben an anderer Stelle kürzen. Das sehen wir in der Kohäsionspolitik, der gemeinsamen Agrarpolitik und im sozialen Bereich. Die Menschen erwarten von Europa, dass es sich mit seinem kleinen Budget um alles kümmert: von der Rettung der Renten bis zur Garantie des Mindestlohns, von der Zusammenarbeit mit Afrika bis zur Flüchtlingsunterbringung. Um das System am Laufen zu halten, herrscht bisher eine Flohmarkt-Dynamik, in der man sich unter den Mitgliedstaaten gegenseitig Gefallen und Kompromisse zuschiebt. Wir brauchen viel eher ein autonomes System, in dem Dinge wie CO2 oder Plastik besteuert werden, um damit weitere Investitionen zu erlauben, ohne direkten Transfer von Staat zu Staat. Aber obwohl viele der vorliegenden Vorschläge gut sind, fehlt es auch seitens der Mitgliedsstaaten am intellektuellen Mut, sich einzugestehen, dass man nicht zusätzliche Aufgaben schultern kann, ohne anderswo zu kürzen.
Erschienen bei EurActiv.
Das europapolitische Onlinemagazin EurActiv und der Tagesspiegel kooperieren miteinander.
Florence Schulz
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