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Politik: Flucht vor der Angst

Tausende Syrer drängen sich an der Grenze zur Türkei – sie hoffen, dass sie dort vor dem Assad-Regime sicher sind

Die blauen, weißen und grünen Plastikplanen selbst gebauter Zelte glänzen in der Sonne. „Alle sind jetzt in den Zelten dort, in den Dörfern ist niemand mehr“, sagt Abdullah, ein Syrer, der es über die Grenze in die Türkei geschafft hat. Vom türkischen Grenzdorf Güvecci aus sind an mehreren Stellen auf der syrischen Seite des Grenzzauns die improvisierten Zeltstädte zu sehen, in denen insgesamt bis zu zehntausend Menschen ausharren sollen. Wenn sie sich in Richtung Grenze in Bewegung setzen, wird sich die Zahl der Flüchtlinge in den türkischen Auffanglagern mit einem Schlag verdoppeln. Jeden Tag kann es losgehen. Die Türkei steht möglicherweise vor einer neuen Fluchtwelle aus Syrien.

Abdullah, der seinen wirklichen Namen aus Angst vor den syrischen Sicherheitskräften nicht nennen will, hat Glück im Unglück. Er kann bei Verwandten auf der türkischen Seite unterkommen. Die Lage der Menschen in den Zelten an der Grenze dagegen wird immer schwieriger. Sie haben kein Wasser, keine Nahrung, keine Medizin. „Zwei Kinder von denen sind schon gestorben“, sagt eine Bäuerin in Güvecci, die von ihrem Haus auf einem Hügel aus rund 500 Menschen in den Zelten im Tal beobachten kann.

Mohammed ist einer der Syrer aus den Zeltstädten. Zusammen mit anderen jungen Männern marschiert der 21-Jährige fast täglich über die grüne Grenze nach Güvecci, um Brot und Wasser zu besorgen. Die türkischen Soldaten am Grenzzaun lassen sie passieren. „Wir haben zwar Geld, aber die Türken geben uns alles umsonst“, sagt Mohammed.

Auf dem Dorfplatz von Güvecci stehen mehrere Kleinlaster, die mit Wasser und Zeltplanen für die Syrer in den Zelten beladen sind. Gespendet wurden die Hilfsgüter von der Bevölkerung in der Gegend um Güvecci; viele hier haben Verwandte auf der anderen Seite des Grenzzauns. Auch die wegen ihrer Beteiligung an der Gaza-Flotille im vergangenen Jahr umstrittene islamische Hilfsorganisation IHH hat rund fünf Tonnen Hilfsgüter an die Grenze bei Güvecci geschickt, die an die Syrer in den Zelten verteilt werden sollen. Die Aktionen sind unabhängig vom staatlichen türkischen Unterstützungsprogramm für die Flüchtlinge, das ein Volumen von etwa 15 Millionen Euro hat und das nach Regierungsangaben mit der Entsendung von Hilfsgütern über die Grenze ebenfalls bald den Menschen in den Zelten zugutekommen soll.

Warum harren die Syrer unter schwierigen Bedingungen in den Zelten aus, wo sie in der Türkei doch in gut organisierten Flüchtlingslagern leben könnten? „Viele sind Bauern, die gehen tagsüber in ihre Dörfer, um nach dem Vieh zu schauen, und schlafen nachts in den Zelten“, sagt Abdullah. Die Syrer haben Angst vor den Sicherheitskräften von Präsident Bashar al Assad und fühlen sich sicherer am Grenzzaun, wo sie die türkischen Soldaten sehen können. Syrische Truppen ließen sich bisher nicht blicken. Auf diese Weise glauben sich die syrischen Zeltbewohner in Sicherheit, ohne dass sie bei einer Flucht in die Türkei gleich Haus und Hof aufgeben müssen.

Doch das wird möglicherweise nicht mehr lange so bleiben. In Syrien rücken die Streitkräfte inzwischen gegen weitere Städte im Norden des Landes vor. Tausende sollen auf der Flucht sein, für viele dürfte auch die Türkei die beste Möglichkeit sein, der Gewalt zu entkommen. Nachts trage der Wind schon den näher rückenden Gefechtslärm aus Syrien herüber, heißt es auf der türkischen Seite.

Rund 9700 Syrer haben deshalb den Schritt über die Grenze gewagt und sich in türkische Obhut gegeben. Drei Viertel der Flüchtlinge auf der türkischen Seite sind Frauen und Kinder, untergebracht in drei Flüchtlingslagern. Zwei weitere werden derzeit gebaut. Die Lager sind mit allem ausgestattet, was die Menschen brauchen. Familien werden gemeinsam untergebracht, es gibt drei Mahlzeiten am Tag, es gibt Waschmaschinen, selbst an Mal- und Singkreise für die Kinder sowie an Nähkurse für die Frauen haben die Türken gedacht. Die Behörden erwarten ganz offensichtlich, dass die Gäste aus Syrien länger bleiben werden: Laut Presseberichten werden inzwischen Präservative an die Flüchtlinge verteilt, damit sie ungewollte Schwangerschaften vermeiden können.

Bisher gibt es keinerlei Platzprobleme in den türkischen Camps. Doch wenn sich die Syrer aus den Zelten an der Grenze zur Flucht in die Türkei entschließen und weitere aus dem Landesinneren an der Grenze kommen sollten, dürfte sich das ändern. Der türkische Außenminister Ahmt Davutoglu spricht schon von der Möglichkeit einer „regionalen und internationalen Krise“, wenn es eine weitere große Flüchtlingswelle geben sollte.

Ausgeschlossen ist das nicht. Syrer in Güvecci berichten von Gräueltaten der Armee. „Sie haben mit Panzern auf Häuser geschossen“, sagt Mohammed über den kürzlichen Großangriff der syrischen Sicherheitskräfte auf die Stadt Dschisr al Schugur, die nur 20 Kilometer von Güvecci liegt. Sein Cousin sei bei der Gewalt ums Leben gekommen. Abdullah berichtet von Folterungen und Deserteuren, die sich weigerten, auf Zivilisten zu schießen. „Wie Israel in Palästina“ führe sich das Assad-Regime im eigenen Land auf, sagt er voller Verachtung.

Besondere Furcht verbreitet Maher Assad, der Bruder des syrischen Präsidenten, der eine Sondereinheit leitet. „Der kennt kein Mitleid“, sagt Abdullah, Mahers Einheit ziehe von Stadt zu Stadt, um den Aufstand gegen das Regime niederzuschlagen. Nachprüfbar sind die Schilderungen der Syrer über das brutale Vorgehen der Armee nicht, doch sie decken sich mit anderen Berichten aus Syrien – und offenbar auch mit den Erkenntnissen der türkischen Regierung, die den Aufstand beim Nachbarn sehr genau und auch geheimdienstlich verfolgt. Als Assad in einem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan vor einigen Tagen verlangte, die Türkei solle die syrischen Flüchtlinge wieder über die Grenze zurückschicken, biss er auf Granit. „Wir schicken niemanden zurück, wenn die Leute dort in Lebensgefahr sind“, sagte Erdogan dem syrischen Präsidenten laut Presseberichten.

Der von Assad diese Woche nach Ankara geschickte syrische Sondergesandte Hasan Türkmani gab sich trotzdem zuversichtlich, dass die Flüchtlinge bald nach Hause zurückkehren werden. Die Syrer seien nur „vorübergehend“ in der Türkei, sagte er. Inzwischen habe es auch die ersten Rückkehrer gegeben. In Güvecci ist davon nichts zu sehen. Syrer wie Abdullah berichten, einige ihrer Landsleute hätten nach einer inner-syrischen Vertreibung den Versprechen der Behörden geglaubt und seien wieder nach Hause gegangen. „Da wurden sie dann gefoltert.“

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