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Vorabinformationen zu Urteilen am Vortag: Keiner macht, was das Bundesverfassungsgericht macht
Die Karlsruher Vorzugsbehandlung für einige Journalisten ist nahezu ein Unikum in Europa - das ergibt eine Recherche der Bundestagsverwaltung. Nur in Österreich passiert etwas Ähnliches.
Stand:
Mit seiner umstrittenen Praxis, ausgewählte Journalisten einen Tag vor der offiziellen Verkündung über Urteile zu informieren, steht das deutsche Bundesverfassungsgericht in Europa allein da. Dies ergab eine Umfrage der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags, die dem Tagesspiegel vorliegt.
Demnach bekommen außer in der Bundesrepublik sonst nur noch in Österreich Journalisten die Gelegenheit, von Urteilen Kenntnis zu erlangen, bevor sie öffentlich mitgeteilt werden. Anders als das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe stellt der österreichische Verfassungsgerichtshof in Wien die Informationen jedoch erst zwei bis drei Stunden vor der offiziellen Verkündung bereit – und dies auch nur, wenn „eine Entscheidung besonders kompliziert oder von besonderer Relevanz ist“.
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Ein weiteres Bundestagsgutachten hegt Zweifel an der Praxis
Wie berichtet, äußert eine weitere Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste erhebliche Zweifel daran, ob die gezielte Privilegierung von Medien, wie sie in Deutschland erfolgt, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dies sei „besonders schwerwiegend“ für diejenigen Journalisten, die von den Informationen ausgeschlossen seien.
Der Nachteil habe auch wirtschaftliche Bedeutung. Zudem gibt es an der Praxis Kritik aus der Politik, vom Deutschen Presserat sowie vom Deutschen Journalisten-Verband. Die AfD klagt dagegen vor den Verwaltungsgerichten. Das Bundesverfassungsgericht befindet sich damit in der paradoxen Situation, dass ihm selbst ein Verfassungsverstoß vorgeworfen wird. Die Richterinnen und Richter könnten irgendwann in eigener Sache urteilen müssen.
In Polen wird keine Vorabveröffentlichung von Gerichtsentscheidungen praktiziert.
Aus dem Europa-Vergleich der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags
Für ihre vergleichende Recherche mit dem Titel „Zur Praxis von Vorabinformationen durch Gerichte an die Medien“ haben die Experten der Parlamentsverwaltung jetzt die 46 Mitgliedstaaten des Europarats sowie den Europäischen Gerichtshof befragt. Fazit: Mit Ausnahme Österreichs bestehe „in keinem anderen der aufgeführten Länder des Europarates beziehungsweise beim Europäischen Gerichtshof die Praxis, ausgewählte Medienvertreter über Entscheidungen des Verfassungsgerichtes oder vergleichbarer Gerichte vorab zu informieren.“
Grundlage dafür seien allerdings nur die „offiziellen Aussagen“ der angefragten Parlamentsverwaltungen. „Inwieweit in den jeweiligen Ländern informelle Praktiken existieren, kann naturgemäß nicht erhoben werden.“
In Karlsruhe ist es seit vielen Jahren üblich, Pressemitteilungen von Urteilen am Vortag der Verkündung einem privaten Verein („Justizpressekonferenz“, JPK) zugänglich zu machen. Von den Mitgliedern wird verlangt, eine Schweigeverpflichtung zu unterschreiben. Verfassungsgericht und Justizpressekonferenz konnten die Praxis lange geheim halten, erst 2020 flog sie auf.
Andere Bundesgerichte sowie das Justizministerium zeigten sich damals überrascht. Die AfD klagte gegen das Vorgehen, weil es aus ihrer Sicht gegen das Recht auf ein faires Verfahren als Prozessbeteiligte verstößt. AfD-Abgeordnete würden als Kläger vor den Kameras von Journalisten regelrecht vorgeführt, da diese über überlegenes Wissen verfügten.
Das Beispiel Österreichs taugt als Vorbild für Karlsruhe nur eingeschränkt
Der internationale Vergleich dürfte den Druck auf das Verfassungsgericht weiter erhöhen, seine Gepflogenheit zu überdenken. Das Beispiel Österreichs taugt als Vorbild nur eingeschränkt: Dort stellt das Gericht die Informationen direkt der größten nationalen Nachrichtenagentur APA zu Verfügung, die österreichischen Tageszeitungen sowie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ORF gehört.
Die Justizpressekonferenz sucht sich ihre Mitglieder dagegen selbst zusammen, nach eigenem Satzungsrecht. Eine Mitgliedschaft können nur Journalisten anstreben, deren Medien Büros vor Ort haben oder die regelmäßig bei Verhandlungen und Verkündungen der Karlsruher Bundesgerichte anwesend sind.
Faktisch begünstigt sind dadurch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die in Karlsruhe sowohl Redaktionen unterhalten wie auch mit zahlreichen Journalisten vertreten sind. Fast die Hälfte der JPK-Mitglieder kommen von den Sendern.
Das Bundesverfassungsgericht hält die JPK-Journalisten für besonders professionell und hinsichtlich ihrer Verschwiegenheit für besonders zuverlässig, weshalb eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt sei. Die Praxis ermögliche, dass die Berichterstattung über die oft komplexen Urteil gut vorbereitet werde. Eine Ansicht die - wenig erstaunlich - in der Justizpressekonferenz in vollem Umfang geteilt wird.
Länder wie Polen oder Ungarn, die für Zustände in ihrer Justiz viel kritisiert werden, verzichten indes ganz auf solche Verfahren: „In Polen wird keine Vorabveröffentlichung von Gerichtsentscheidungen praktiziert“, heißt es im „Sachstand“ der Parlamentsverwaltung. Der polnische Verfassungsgerichtshof in Warschau veröffentliche Urteile im Amtsblatt sowie auf seiner Webseite. Zum Vorgehen in Budapest heißt es kategorisch: „Journalisten haben in Ungarn keine Möglichkeit, den Inhalt der Entscheidung zu erfahren, bevor Gerichte ihre Entscheidungen der Öffentlichkeit bekannt geben“.
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