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Ein türkischer Soldat springt von einem Panzer.

© Nazeer Al-khatib/AFP

Update

Hunderte Tote, hundertausend Menschen fliehen: Türkei rückt trotz internationaler Kritik weiter in Syrien vor

Sanktionsdrohungen der EU, Kritik sogar aus Russland und dem Iran – und die USA fordern von Erdogan den sofortigen Stopp des Angriffs in Nordsyrien.

Wenige Tage nach Beginn ihrer jüngsten Militärintervention in Syrien ist die Türkei international so isoliert wie selten zuvor. Die wichtigsten westlichen Partner Ankaras, die USA und die EU, denken über Sanktionen nach. Kritik kommt auch von Russland, einem unverzichtbaren Verbündeten der Türkei im Syrien-Konflikt: Moskau befürchtet ein Wiedererstarken des "Islamischen Staates" (IS). Trotz der Kritik und eines Vermittlungsangebotes von US-Präsident Donald Trump setzt die türkische Armee ihre Angriffe auf kurdische Milizionäre im Norden Syriens fort.

Das US-Verteidigungsministerium rief die Türkei zum Abbruch der Offensive in Nordsyrien aufgerufen. Die USA lehnten die "unkoordinierten Aktionen" im Nordosten des Bürgerkriegslandes ab, da sie Fortschritte der internationalen Koalition gegen die Terrormiliz IS Staat gefährdeten, machte US-Verteidigungsminister Mark T. Esper seinem türkischen Amtskollegen Hulusi Akar in einem Telefonat am Donnerstag klar, wie das Pentagon am Freitag mitteilte. Esper habe die Türkei "ermutigt", die Maßnahmen im Nordosten Syriens einzustellen, um die Situation zu deeskalieren.

Bei der am Mittwoch gestarteten Offensive wurden bis Freitag nach offiziellen türkischen Angaben mehr als 340 Kämpfer der Kurdenmiliz YPG und ein türkischer Soldat getötet. Beide Seiten beklagten zudem den Tod von Zivilisten durch feindlichen Beschuss. Die UN teilten mit, bereits 100.000 Menschen seien auf der Flucht aus dem Kampfgebiet. Sinkende Temperaturen im beginnenden Herbst verschlimmerten die Lage der Flüchtlinge.

Ankara wies solche Befürchtungen zurück. Behauptungen, der Einmarsch werde eine neue humanitäre Krise und eine Massenflucht auslösen, würden in die Welt gesetzt, „um die Bemühungen der Türkei im Kampf gegen den Terrorismus zu diskreditieren“, erklärte das türkische Außenamt.

Die Türkei will ihre Soldaten nach eigenen Angaben bis zu 30 Kilometer tief auf syrisches Gebiet schicken, doch bisher spielen sich die meisten Kämpfe in unmittelbarer Nähe der Grenze ab. Das Verteidigungsministerium in Ankara teilte am Freitag dennoch mit, der Einsatz verlaufe planmäßig. Bisher seien drei türkische Soldaten ums Leben gekommen. Vertreter der YPG erklärten, es gebe heftige Gefechte zwischen den vorrückenden Truppen und den Milizionären.

Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die keiner der beiden Konfliktparteien nahe steht, konnten die Kurdenkämpfer ein von den Angreifern eingenommenes Dorf an der Grenze zurückerobern. Dabei seien ein türkischer Soldat und sechs Mitglieder einer Ankara-treuen syrischen Miliz getötet worden.

Der YPG zufolge häufen sich zudem Versuche des IS, den türkischen Vormarsch zur Befreiung von tausenden inhaftierten Dschihadisten aus Lagern im Norden Syriens zu nutzen. Eine unabhängige Bestätigung dafür gab es nicht. Die Lager werden derzeit von der YPG bewacht.

Angriff soll die Grundlage für eine „Sicherheitszone“ in Nordsyrien schaffen

Der Einmarsch richtet sich gegen die Präsenz der YPG an der türkischen Südgrenze. Die Kurdenmiliz ist der syrische Verband der kurdischen Terrororganisation PKK und wird deshalb von der Türkei als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit bekämpft. Der Angriff soll auch die Grundlage für eine „Sicherheitszone“ in Nordsyrien schaffen, in die Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei umgesiedelt werden sollen.

Mit dem Plan reagiert Präsident Recep Tayyip Erdogan auf den wachsenden Unmut türkischer Wähler angesichts von 3,6 Millionen syrischer Flüchtlinge im Land. Die YPG ist jedoch ein Verbündeter der USA im Kampf gegen den Islamischen Staat. Ein Versuch von Türkei und Amerika, diesen Interessenkonflikt durch ein gemeinsames Vorgehen zu lösen, war in den vergangenen Wochen gescheitert.

US-Präsident Trump will nach heftiger Kritik nun vermitteln

Trump hatte am Sonntag den Rückzug der mit der YPG in Nordsyrien stationierten US-Soldaten befohlen und der Türkei damit grünes Licht für den Einmarsch gegeben. Nach heftiger Kritik in den eigenen Reihen will Trump nun zwischen Türken und syrischen Kurden vermitteln.

Einige Beobachter wie der Nahost-Experte Nicholas Heras von der US-Denkfabrik CNAS vermuten, dass die amerikanische Initiative darauf abzielt, den türkischen Einmarsch nach der Einnahme der Stadt Tal Abyad und deren Umgebung auf der syrischen Seite der Grenze zu stoppen. Das würde der Türkei einen Erfolg bescheren, gleichzeitig aber die Gewalt begrenzen. Ankara äußerte sich nicht zu Trumps Vermittlungsangebot.

Nato-Staat Norwegen stoppt bis auf weiteres Rüstungslieferungen

Auf internationaler Bühne hat die Türkei nur wenige Unterstützer. Führende Politiker im US-Kongress wollen das Land mit Sanktionen für die Offensive gegen die YPG bestrafen, der Nato-Staat Norwegen stoppte bis auf weiteres Rüstungslieferungen an die Türkei.

Auch die EU denkt über Sanktionen nach und verschärft damit einen Streit mit der Türkei um die Aufnahme syrischer Flüchtlinge. Erdogan hatte damit gedroht, die Syrer nach Europa zu schicken, sollte die EU den türkischen Feldzug kritisieren. EU-Ratspräsident Donald Tusk wies dies als versuchte Erpressung zurück.

Iran fordert sofortigen Stopp des Einmarschs

Besonders bedenklich für die Türkei ist die Kritik aus Russland, denn Ankara ist in Syrien auf die Zustimmung Moskaus angewiesen. Präsident Wladimir Putin sagte am Freitag, er sei „nicht sicher“, ob und wie schnell die türkischen Truppen in der Lage sein würden, die Gefahr eines Comebacks des "Islamischen Staats" im Nordosten Syriens in den Griff zu bekommen. Der Iran, ein weiterer Partner der Türkei im Syrien-Konflikt, verlangt den sofortigen Stopp des Einmarsches.

Trotz der internationalen Kritik bleibt die türkische Führung bei ihrer Linie. Außenminister Mevlüt Cavusoglu forderte am Freitag bei einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Istanbul die Solidarität der Partner im westlichen Bündnis ein. Cavusoglu sagte, es reiche nicht, dass die Nato-Partner sagten, "wir verstehen die legitimen Sorgen der Türkei. Wir wollen diese Solidarität klar und deutlich sehen". Stoltenberg rief die Türkei zur Zurückhaltung bei der Militäraktion auf.

Nicht nur der Feldzug selbst, sondern auch die Pläne der Türkei für die „Sicherheitszone“ geraten immer mehr in die Kritik. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR erinnerte die türkische Regierung am Freitag daran, dass eine Rückführung syrischer Flüchtlinge nur auf freiwilliger Basis und nach einer Beruhigung der Lage in der Gegend möglich sei. (mit dpa)

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