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Vor dem Untergang. Durch den am Tigris geplanten Staudamm soll ein mehr als 300 Quadratkilometer großer See entstehen – auch die alte Stadt Hasankeyf wird dann überflutet. Foto: dpa/pa

© picture-alliance/ dpa

Ilisu-Staudamm: Türkei: Umsiedlung am Tigris

Für den umstrittenen Ilisu-Staudamm in der Türkei müssen Tausende ihre Häuser verlassen. Jetzt hat das Land ein Musterdorf eröffnet.

Schmucke Häuser, grünes Gras: Mit der Übergabe des ersten neu errichteten Dorfes für Menschen aus dem Einzugsgebiet des umstrittenen Ilisu-Staudamms will die türkische Regierung demonstrieren, dass sie auch ohne Auflagen der Europäer in der Lage ist, bei einem Großprojekt wie dem Damm höchste Standards für Mensch und Umwelt zu garantieren. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan persönlich will an diesem Sonntag die Schlüssel für die neuen Häuser an die Bewohner übergeben.

Knapp eineinhalb Jahre ist es her, dass die Regierungen von Österreich, Deutschland und der Schweiz ihre Kreditbürgschaften für den Ilisu-Staudamm zurückzogen. Die Türkei nehme nicht genug Rücksicht auf Menschen, Kultur und Natur, begründeten sie ihren Rückzug. Inzwischen wird längst wieder gebaut am Tigris. Für die europäischen Kreditgarantien sind türkische Privatbanken eingesprungen, der österreichische Anlagenbauer Andritz Hydro blieb auch unter den neuen Vorzeichen bei der Sache, die Aufträge der deutschen und Schweizer Firmen übernahmen türkische Unternehmen. Die Türkei will den Staudamm alleine bauen – und zeigen, was sie kann. Das neu errichtete Dorf gehört dazu.

Die Bewohner des dem Untergang geweihten kurdischen Dörfchens Ilisu, das dem geplanten Damm seinen Namen gab, durften kürzlich die neue Ortschaft besichtigen, das die staatliche Wohnungsbaugesellschaft für sie errichtet hat. Hoch am Berghang liegt die Siedlung über dem Tigris, der das alte Ilisu verschlucken wird. Etwas klinisch mag Neu-Ilisu im Vergleich zum alten Dorf wirken, das aus krummen Gassen und windschiefen Lehmhütten besteht, in denen Mensch und Vieh unter einem Dach hausen. Doch für südostanatolische Verhältnisse sind die neuen Häuser ein Traum.

„Ich will von hier aus der ganzen Welt sagen: Seht, welch ein schönes Dorf wir gebaut haben“, sagte der türkische Umweltminister Veysel Eroglu bei seiner Ortsbesichtigung. Regelrechte Villen auf 1000-Quadratmeter-Grundstücken stünden den neuen Bewohnern zur Verfügung. Es gibt eine Kanalisation und fließendes Wasser, ein Gemeindehaus, eine Moschee, Grünflächen und einen Spielplatz. „Es ist das schönste Dorf der Türkei, wenn nicht der ganzen Welt“, schwärmte der Minister. Tatsächlich haben sich die Behörden viel Mühe mit dem Dorf gegeben, denn Neu-Ilisu ist der Prototyp für viele weitere Dörfer, die noch folgen sollen. Fast 200 Ortschaften werden im Stausee versinken, wenn der Damm fertig ist – die 300 Einwohner von Ilisu sind nur die ersten von rund 50 000 Menschen, die in den nächsten Jahren umgesiedelt werden sollen. Sie alle werden gespannt auf dieses Musterdorf blicken, wenn Erdogan es an diesem Sonntag offiziell übergibt.

Die meisten Einwohner von Ilisu hat der Staat jedenfalls überzeugen können. Nach jahrelangem Widerstand hätten sie nun nichts mehr einzuwenden gegen den Umzug, sagte Bürgermeister Mehmet Nezi Celik: „Anfangs waren wir ja gegen dieses Projekt, aber diese Häuser haben unsere Bedenken zerstreut.“ Vor allem die Hausfrauen von Ilisu sind beeindruckt von den neuen Häusern, in denen sie moderne Einbauküchen haben werden und gekachelte Badezimmer statt dem Plumpsklo auf dem Hof. Doch damit stelle sich schon das nächste Problem, sagte die Bäuerin Sirin Seyhan. „Die Häuser sind wunderschön, wir bedanken uns sehr dafür, aber wir können unmöglich unsere alten Sachen hineinstellen. Wir möchten vom Ministerpräsidenten, dass er uns neue Einrichtungen gibt, vor allem Haushaltsgeräte.“

Daraus wird wohl nichts, denn geschenkt bekommen die Dörfler nichts – auch nicht die neuen Häuser, in die sie ab diesem Sonntag umziehen sollen. Nach einer zahlungsfreien Periode von fünf Jahren sollen die Dorfbewohner die umgerechnet rund 35 000 Euro pro Haus in Monatsraten von knapp 150 Euro abstottern, eine stolze Summe für die arme Gegend.

Wie die Dörfler das Geld aufbringen sollen, wissen sie selbst noch nicht. Die meisten von ihnen sind arme Bauern, die bisher von dem lebten, was ihre Äcker hergaben. Und bei allem Luxus gibt es im neuen Dorf weder Ställe für das Vieh noch Anbauflächen für die Bewohner.

Umweltminister Eroglu hat zwar angekündigt, dass den Menschen in Neu-Ilisu staatliches Forstland zur Verfügung gestellt werden soll, um Mandeln und Walnüsse anzubauen. Die Dörfler wissen davon aber nichts – ebenso wenig wie von den Umschulungen und Ausbildungen, die ihnen seit Jahren versprochen werden.

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