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Politik: Im Beichtstuhl der Kanzlerin

Wie Angela Merkel versucht, beim Gipfel über die EU-Reform einen Kompromiss zu schmieden

EU-Kommissionschef José Manuel Barroso sollte Recht behalten. „Das Hauptgericht kommt erst morgen auf den Tisch“, sagt er am späten Donnerstagabend im Brüsseler Ratsgebäude. Zu diesem Zeitpunkt tagen die Staats- und Regierungschefs zwar schon sechs Stunden. Aber der eigentliche Showdown steht erst noch bevor – am Freitag, dem zweiten Gipfeltag. Für Kanzlerin Angela Merkel beginnt dieser Tag im Brüsseler Justus-Lipsius-Gebäude, wo ein Ausweg aus der EU-Verfassungskrise gefunden werden soll, gegen 9 Uhr morgens. Als Erstes bittet sie Polens Staatschef Lech Kaczynski in ihren „Beichtstuhl“ im Präsidentinnenzimmer im 5. Stock des Ratsgebäudes. Vor allem von Lech Kaczynski und seinem Zwillingsbruder Jaroslaw, der in Warschau die Regierungsgeschäfte führt, wird es abhängen, ob Merkel am Ende melden kann „Mission erfüllt“ – oder nicht.

Die Aufgabe, um die es für die Kanzlerin bei ihrem letzten Gipfel als EU-Ratsvorsitzende geht, trägt den nüchternen Namen „Reformvertrag“. Es geht dabei um den Abschied vom hehren Projekt einer EU-Verfassung, der aber auch kein richtiger Abschied sein soll. Weil die Verfassung 2005 bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden durchgefallen war, soll sie durch den Reformvertrag ersetzt werden. Das sieht jedenfalls das Mandat vor, das Merkel in Brüssel beschließen lassen möchte. Schwierig ist die Mission vor allem, weil die Kanzlerin bei diesem Treffen zwei Seiten berücksichtigen muss. Im einen Lager stehen die Verfassungsskeptiker, die mit Europas Beethoven-Hymne, der blauen Fahne mit den gelben Sternen und allem, was nach einem „europäischen Superstaat“ riecht, nichts anfangen können. Im anderen Lager haben sich die Verfassungsfreunde versammelt, die das Vertragswerk bereits ratifiziert haben. Noch bevor Merkel zum Gipfel kommt, sind Kritikpunkte der Skeptiker – Hymne, Fahne – abgeräumt. All diese Dinge sollen im neuen Text nicht mehr erscheinen. Dafür erweist sich für die Kanzlerin die polnische Forderung nach einem stärkeren Stimmengewicht in der EU als besonders knifflig. Polen lehnt das Abstimmungssystem der „doppelten Mehrheit“ ab, das in der EU-Verfassung vorgesehen ist. Stattdessen will Warschau am derzeit gültigen Nizza-System festhalten, das Polen bei Mehrheitsabstimmungen ein fast ebenso großes Gewicht einräumt wie Deutschland.

Zunächst, in der Nacht zum Freitag, schlägt Lech Kaczynski eine Formel vor, die seinem Land auf lange Sicht die Quasi-Parität mit Deutschland garantieren würde. Bis zum Jahr 2020, so lautet seine Idee, soll die EU an den alten Abstimmungsregeln des Nizza-Vertrages festhalten. Dieser Vorschlag findet aber nur wenig Gnade in der Gipfelrunde. „Das ist möglich, aber das ist eine sehr schlechte Lösung“, urteilt etwa Luxemburgs Regierungschef Jean-Claude Juncker, der wie Merkel in das Lager der Verfassungsbefürworter gehört. Am Freitagmittag sucht Merkel mit dem polnischen Staatschef erneut nach Kompromisslinien in dem Streit um die Stimmengewichtung – es ist inzwischen schon das dritte Treffen der beiden innerhalb von zwölf Stunden.

Aber was ist schon ein halber Tag bei einem europäischen Krisengipfel? Es sind bereits 24 Stunden Gipfel-Marathon vergangen, als die Kanzlerin am Freitagabend einen erneuten Anlauf zur Lösung des Streits um die Abstimmungsregeln macht: Gemeinsam mit Kaczynski, Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy und dem litauischen Präsidenten Valdas Adamkus arbeitet sie einen neuen Vorschlag aus. Bis zum Jahr 2014, so heißt es nun, sollen in der EU die für Warschau günstigen Nizza-Regeln gelten. Es vergehen weitere drei Stunden, bevor klar ist, dass die polnische Führung den Vorschlag ablehnt – und zwar nicht in Brüssel, sondern in Warschau. Dort droht Regierungschef Jaroslaw Kaczynski, sein Veto einzulegen. In Brüssel dämmert es zu diesem Zeitpunkt, und man stellt sich auf eine lange Verhandlungsnacht ein.

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