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Krisengeschüttelt: die Ampel-Koalitionäre Christian Lindner, Olaf Scholz und Robert Habeck nach der Klausurtagung auf Schloss Meseberg.

© IMAGO/Political-Moments

Update

Die Ampel muss undogmatisch Lösungen finden: In der Krise wirken Wahlgeschenke nicht

Schuldenbremse, fossile Energie, kalte Progression: Warum die Ampel-Koalitionäre ohne Rücksicht auf ihre Parteiprogramme handeln können. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Sigmar Gabriel

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Sigmar Gabriel, früher Außenminister und SPD-Vorsitzender, heute Publizist und Aufsichtsratschef der Thyssenkrupp Steel. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Günther H. Oettinger, Prof. Dr. Volker Perthes, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Corona-Pandemie, gestörte Lieferketten, Klimakrise, Inflation, Russlands Krieg gegen die Ukraine, gefährliche Spannungen zwischen den USA und China – die Parallelität der Krisen droht unser Land zu überfordern.

Sichtbarstes Symbol könnten die Energiepreise werden, die gleich in zweierlei Hinsicht explosives Potenzial haben: zum einen hinsichtlich der Kosten für weite Teile der Bevölkerung und viele Unternehmen. Zum anderen für den sozialen Zusammenhalt unserer Demokratie. Verzweiflung, Ohnmachtsgefühle und Zukunftsängste sind schließlich der Nährboden von Wut und Zorn, die politisch nach einem Ventil suchen.

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Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik stand eine Regierung vor einer derartigen Bewährungsprobe. Es geht gleichzeitig um den Kampf gegen den Klimawandel, die gemeinsame Abwehr von Moskaus Großmachtansprüchen, wirtschaftliche und soziale Verwerfungen durch den drohenden Stopp russischer Gaslieferungen und nicht zuletzt um die Neuausrichtung unseres exportorientierten ökonomischen Modells, das angesichts von steigenden Energie- und Rohstoffpreise sowie wachsenden Handelshemmnissen enorm unter Druck steht.

Die Regierungsparteien müssen von ihren Überzeugungen abrücken, meint der Autor dieses Textes und ehemalige Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD).
Die Regierungsparteien müssen von ihren Überzeugungen abrücken, meint der Autor dieses Textes und ehemalige Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD).

© Foto: dpa/Britta Pedersen

Ganz zu schweigen vom dramatischen Investitionsstau bei der Infrastruktur, im Schul- und Bildungswesen. Was immer man an Fehlern, Widersprüchlichkeiten und Korrekturen im Handeln der Bundesregierung erkennen mag: Es gibt für diese Parallelität an Krisen keine „Blaupause“ und gemessen an den Herausforderungen wird Deutschland bislang auf sehr stabilem Kurs gehalten.

Die nötigen Entlastungen kosten Milliarden

Um das alles zu stemmen, wirtschaftliche und soziale Krisen zu verhindern und gleichzeitig ein großes Investitionsprogramm zu starten, das sich vom Energiesektor über die Bildungs- und Verkehrsinfrastruktur bis zum Militärhaushalt erstreckt, braucht man viel Geld.

Allein die Entlastungen von Steuern und Abgaben, die notwendig sind, damit Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen nicht von den explodierenden Energierechnungen überfordert werden, kostet Milliarden. Man mag über Sinn oder Unsinn der Gasumlage streiten, aber reichen wird sie in keinem Fall. Ohne eine staatliche Deckelung der Energiepreise werden Unternehmen ebenso wie Verbraucher wirtschaftlich und sozial in die Knie gezwungen.

Das wird den Staat viel Geld kosten, denn deckeln kann man nur die Verbraucherpreise, nicht die Einkaufspreise für die Energieversorger. Und natürlich ist auch die vom Bundesfinanzminister Christian Lindner geplante Bekämpfung der „kalten Progression“ teuer. Bis zu 15 Milliarden Euro können da schnell zusammenkommen.

Der globale Süden rückt vom westlichen Lager ab

Und das ist noch längst nicht alles: mehr Geld für die Bundeswehr, für die Stabilisierung der schwächeren europäischen Mitgliedsstaaten und für die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern des globalen Südens. Denn weil Deutschland und der reiche Norden derzeit zu Mondpreisen alles aufkauft, was weltweit an Erd- und Flüssiggas verfügbar ist, geraten die ärmeren Länder in eine immer ausweglosere Situation.

Die bewaffnete Auseinandersetzung in der Ukraine betrachtet der globale Süden längst als Stellvertreterkrieg zweier alter Imperien des Nordens – den USA und Russland –, unter dem sie zu leiden haben. Derzeit dürfte es dem westlichen Lager schwerfallen, wie bei der UN-Generalversammlung im März noch einmal eine Mehrheit von 144 Stimmen gegen Russlands Krieg zusammen zu bekommen. Soll sich daran etwas ändern, braucht es weit mehr als gute Worte.

Eine Ausnahme von der Schuldenbremse ist geboten

All das ist nicht einmal ansatzweise zu schaffen, würde die Einhaltung der Schuldenbremse gemäß Artikel 109 des Grundgesetzes kurzfristig wieder zum obersten Ziel der Finanzpolitik. Nichts rechtfertigt die Ausnahme nach Artikel 109 Absatz 3 so sehr wie die aktuelle Situation. Was denn sonst, wenn nicht ein Krieg, sollte den Ausnahmetatbestand erfüllen?

Ein wirtschaftlich starkes Deutschland in einem politisch einigen Europa wird jedenfalls weit eher in der Lage sein, seinen Staatshaushalt später wieder in Ordnung zu bringen, als ein Deutschland, das zwar die Schuldenbremse einhält, ansonsten aber implodiert.

Sollte die Ampel sich über die Schuldenbremse hinwegsetzen? Die "Schuldenuhr" des Steuerzahlerbunds würde dadurch weiter ticken.
Sollte die Ampel sich über die Schuldenbremse hinwegsetzen? Die "Schuldenuhr" des Steuerzahlerbunds würde dadurch weiter ticken.

© imago images/Travel-Stock-Image

Gleichzeitig hat die FDP natürlich einen Anspruch darauf, in der Regierung mehr zu sein als bloßer Erfüllungsgehilfe rot-grüner Ausgabewünsche. Wer von den Liberalen den „Sprung über den eigenen Schatten“ fordert, muss zuerst selbst springen und den ungerechtfertigten Widerstand gegen die FDP-Vorschläge zur Bekämpfung der „kalten Progression“ aufgeben – zumal davon nicht vor allem wenige Top-Verdiener profitierten, sondern vor allem jene abhängig Beschäftigten, die als Meister, Techniker, kaufmännische Angestellte oder Facharbeiter zwar die inflationsbedingten steigenden Lebenshaltungskosten tragen müssen, von den parallel erzielten Lohn- und Gehaltserhöhungen aber nichts haben, weil sie dadurch in höhere Steuertarife rücken.

Ebenso wie die SPD-Vorschläge zur Erhöhung von Wohn- und Kindergeld oder die Vergabe von Energiepauschalen und Tankrabatten dient die Bekämpfung der „kalten Progression“ der Erhaltung der verfügbaren Einkommen und wirkt sich stabilisierend auf Kaufkraft und Binnennachfrage aus.

Bürokratie verhindert die Energiewende

Noch ein Thema der Liberalen könnte zum Gütesiegel der Bundesregierung werden: Eine tiefe Schneise in Vorschriften, Einspruchsmöglichkeiten und Verfahrenshindernissen zu schlagen, die in Deutschland inzwischen wohl zum größten Innovationshindernis geworden sind.

Wenn von der Planung bis zur Errichtung einer Windkraftanlage fünf bis sechs Jahre vergehen, ist die Energiewende zum Scheitern verurteilt. Erfolgversprechend wäre es, im Verwaltungsverfahren nach Ablauf bestimmter Fristen einen Rechtsanspruch auf Realisierung des Vorhabens ins Gesetz zu schreiben.

Krisen erfordern die Emanzipation vom eigenen Wahlprogramm

„Zeitenwende“ bedeutet auch, das Gegenteil von dem tun zu müssen, was seit Jahrzehnten in den eigenen Wahlprogrammen steht. So kaufen Sozialdemokraten Waffen und liefern sie in Kriegsgebiete, die Grünen suchen verzweifelt nach fossilen Energieträgern und die Liberalen machen täglich neue Schulden. Die Bundesregierung könnte aus ihrer Not eine Tugend machen.

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Die Herausforderungen sind so groß, dass so gut wie keine Wählerin und kein Wähler danach fragen wird, was eigentlich in den Wahlprogrammen gestanden hat. Denn Wählerinnen und Wähler sind nicht käuflich. So sehr Wahlgeschenke an einzelne Gruppen auch gerne „mitgenommen“ werden, so wenig bewirken sie in politischen Krisenzeiten.

Was jetzt wirklich zählt, ist die Fähigkeit, Deutschland sicher und stabil durch überaus herausfordernde Jahre zu führen. Natürlich kann am Ende trotzdem eine politische Wahlniederlage stehen. Wenn das Land durch die abgewählte Politik aber stärker geworden ist, wäre das kein zu hoher Preis.

Winston Churchill hat Großbritannien siegreich durch den Zweiten Weltkrieg geführt – und verlor trotzdem die erste Friedenswahl im Vereinigten Königreich. Später aber kehrte er wieder als Premier auf die Bühne zurück – und gilt unter den Politikern des 20. Jahrhunderts bis heute als Gigant.

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