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Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz und Nachfolgerin von Kurt Beck

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Interview mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer: "Inklusion macht uns menschlicher und kompetenter"

Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, und selbst durch die Krankheit Multiple Sklerose beeinträchtigt, spricht im Tagesspiegel-Interview über die Notwendigkeit der schulischen Inklusion, über Flüchtlingsfragen und die Lage der SPD nach den Landtagswahlen.

Es ist 7.30 Uhr, am vergangenen Dienstagmorgen. Malu Dreyer hat am Abend zuvor bis kurz vor Mitternacht auf ihrer traditionellen Sommerreise mit Journalisten vor allem über die Politik in Rheinland-Pfalz gesprochen. Jetzt soll es exklusiv für den Tagesspiegel um Bundespolitik gehen, draußen, vor dem Schloss Engers in Neuwied, hängt noch dicht der Nebel über dem Rhein. Dreyer, 53 Jahre, ist wie immer offen und freundlich, lässt auch persönliche Fragen zu, und gibt auch ehrlich zu, dass das Amt der Regierungschefin noch mehr Arbeit bedeutet, als sie jemals gedacht hätte. Dann lacht sie ihr typisches Malu-Dreyer-Lachen und sagt: "Aber ich gehe noch immer mit meinem Mann ins Kino."

Frau Ministerpräsidentin, Sie haben sich trotz Ihrer Erkrankung an Multipler Sklerose (MS) auf das Amt als Regierungschefin von Rheinland-Pfalz eingelassen. Haben Sie die Entscheidung je bereut?

Nein, an keinem Tag. Ich gebe zu, ich hätte mir nicht vorstellen können, dass man den Satz ‚Ich arbeite viel' nochmals ausdehnen kann. Aber trotz der gestiegenen Ansprüche: Das Amt macht mir Spaß. Es gibt mir viel zurück. Mir geht es gesundheitlich sehr gut. Und das ist sogar für mich wie ein kleines Wunder.

In Deutschlands Städten und Kommunen wird landauf landab intensiv über das Thema schulische Inklusion gestritten. Sie selbst gehören zu der Gruppe von Menschen mit Beeinträchtigungen, beeinträchtigt das Ihre Sicht auf das Thema Inklusion – sind Sie zu parteiisch?

Das ist mir noch nie vorgeworfen worden. Und selbst wenn, wäre mir das egal. Denn ich finde schon, dass es nicht schadet, Politik auch aus eigenem Erleben heraus zu machen und beurteilen zu können.

Inklusion ist mit Ängsten verbunden, in jüngsten Umfragen sagen Eltern zwar, sie glauben, ihre Kinder lernten besseres soziales Verhalten, gleichzeitig hat die Mehrheit Sorge, die Kinder würden nicht ausreichend gefördert, vor allem, wenn geistig behinderte Kinder in den Klassen sind.

Ziel der Politik in Deutschland muss es sein, diese Ängste zu nehmen. Wir sollten aber ruhig bleiben und schauen, um was es geht: Es geht um nichts anderes, als Menschen mit Behinderung ein Leben mitten in der Gesellschaft zu ermöglichen, und das von Anfang an. Darauf muss sich die Gesellschaft einstellen, wir wollen, dass Menschen, die Beeinträchtigungen haben, sich entfalten können, wie alle anderen auch.

Auf einer Schule für alle?

In der UN-Konvention wird keine Vorgabe zum Schulsystem gemacht. Wir haben in Rheinland-Pfalz ein zweigliedriges Schulsystem, und unser Anspruch ist es, Menschen mit Behinderung alle Wege zu öffnen. Das entspricht dem Modell der individuellen Förderung, das heißt, jedem Kind die Möglichkeit zu geben, seine Fähigkeiten zu entfalten. Und dieser Grundsatz gilt für alle Schulformen, wir schließen keine von der Inklusion aus.

Auch nicht Gymnasien?

Auch die nicht. Wir arbeiten daran, dass in Zukunft auch Gymnasien auf alle Behinderungsarten eingestellt sind. Im Moment haben wir das in unserem Bundesland bei Gymnasien noch nicht. Aber das sollte Ziel für ganz Deutschland sein.

Warum Malu Dreyer die Inklusion für ein Bund-Länder-Projekt hält

Auf Sommerreise. Malu Dreyer lässt sich am Anfang der Woche von dem Apothekenbedarfunternehmer und Kunstsammler Axel Ciesielski dessen Kunsthalle zeigen.
Auf Sommerreise. Malu Dreyer lässt sich am Anfang der Woche von dem Apothekenbedarfunternehmer und Kunstsammler Axel Ciesielski dessen Kunsthalle zeigen.

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Verwischen wir nicht offensichtliche Ungleichheit für ein Ideal der Gleichheit, das jede Differenzierung verdeckt?

Nochmal: Ich möchte mich gar nicht auf eine Debatte einlassen, die auch nur den Anschein erweckt, als sei sie ideologisch motiviert. Ich stelle mir unsere Gesellschaft so vor, dass Menschen von ihren Fähigkeiten, nicht von ihrem Defizit aus betrachtet werden.

Ist Inklusion ein Beitrag zur gesellschaftlichen Entschleunigung und Neubesinnung?

Ganz sicher zu einer Neubesinnung. Zudem bedeutet, aufmerksam gegenüber anderen zu sein, automatisch, ein anderes Tempo zu gehen. Insofern wirkt es zwar entschleunigend, ist aber gleichzeitig ein gesellschaftlicher Fortschritt.

Was macht Rheinland-Pfalz besonders gut beim Thema Inklusion?

Wir waren die ersten, die schon vor Jahren einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention aufgelegt haben. Das habe ich als Sozialministerin getan. Die große Mehrheit von Kindern mit Beeinträchtigungen gehen bei uns schon in integrative Kitas, wir haben über 270 Schwerpunktschulen, das sind Regelschulen, die sich die Inklusion zur Aufgabe gemacht und damit auch eine andere Lehrerausstattung haben. Jetzt haben wir für dieses Schuljahr das Wahlrecht für Eltern eingeführt, was sicherlich Vorbildcharakter über Rheinland-Pfalz hinaus haben kann.

Malu Dreyer, Ministerpräsidentin Rheinland-Pfalz
Hat immer gut Lachen. Im Interview mit dem Tagesspiegel sagt Malu Dreyer, die seit 1994 an MS erkrankt ist, ganz offen: "Mir geht es gesundheitlich gut. Und das ist sogar für mich wie ein kleines Wunder."

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Wenn Inklusion nicht ideologisch ist, dann womöglich zu idealistisch, weil der Staat nicht überall in der Lage ist, die Voraussetzungen zu schaffen. Es kostet zu viel.
Aber natürlich werden wir das schaffen, in 20 Jahren wird Inklusion völlig normal sein. Noch nicht heute und auch nicht morgen, aber wir sind dabei, Strukturen zu schaffen und Wege zur Finanzierung zu finden. Ich verstehe gar nicht, warum wir beim Thema Inklusion so zögerlich sind. Das ist kein Ziel von Träumern, sondern gesellschaftliche Notwendigkeit. Und wir Politiker müssen eine Klarheit im Ziel haben und sagen, mit welchen Strukturen wir das Ziel erreichen wollen.

Lässt der Bund die Länder dabei im Stich? Berlin hat sich nicht einmal bereit erklärt, dass Kooperationsverbot auch auf das Thema schulische Inklusion auszuweiten.

Das ist richtig. Ich wünschte mir, dass es eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern gäbe, denn natürlich ist die Inklusion ein riesiger finanzieller Kraftakt. Das sollte eine gemeinsame Aufgabe sein. Bei der Hochschule passiert das ja, die Inklusion wäre ein ebenso gutes und richtiges Bund-Länder-Projekt. Warum nicht eine Bund-Länder-Kommission zur Inklusion einrichten? Bei diesem Thema braucht man übrigens keine Verfassungsänderung, das würden Bund und Länder auch anders gestalten können

Um Geld, in gewisser Weise auch um Inklusion, geht es auch bei der Frage, wie der Bund Kommunen und Länder bei der Frage der Flüchtlingsunterbringung hilft…

…Es geht nicht nur ums Geld. Der Bund hat sich bereit erklärt, Kosten zu übernehmen, und darüber sind wir auch froh. Aber wir müssen intensiver darüber nachdenken, wie wir die Menschen, von denen viele gut ausgebildet sind, in Arbeit bringen.

Ist das der Grund, warum Sie im Bundesrat nicht gegen das verschärfte Asylrecht gestimmt, sondern sich mit ihrem Grünern-Partner enthalten haben?

Ich spreche hier nur für mich. Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht. Bei der Abwägung war für mich entscheidend, dass die Bedingungen für die Flüchtlinge bei der Arbeitsmarktintegration und der Residenzpflicht erheblich verbessert werden. Die Menschen, die kommen, müssen jetzt nicht mehr monatelang darauf warten, ob für sie ein Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Das ist ein wichtiger Schritt.

Was die Ministerpräsidentin über die AfD denkt

Weinanbau - daran kommt kein Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz herum. Warum auch? Vermutlich gehört der Wein auch zur sozialen Kompetenz in diesem Bundesland...
Weinanbau - daran kommt kein Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz herum. Warum auch? Vermutlich gehört der Wein auch zur sozialen Kompetenz in diesem Bundesland...

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Brauchen wir jenseits der Debatte über die Integration von Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt eine Debatte über den Wert von Arbeit? Man hat das Gefühl, wer heute kein Abitur macht, ist weniger wert.

Diese Entwicklung beobachte ich auch mit großer Sorge. Auch das ist in gewisser Weise eine Form der Exklusion: Die gesellschaftliche Wahrnehmung im Moment ist offensichtlich die, dass nur das Abitur so etwas ist wie einen Bildungserfolg darstellt. Ich sehe das anders. Jeder, der etwas gelernt hat, auch jenseits des Abiturs, kann einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Es sollte keinen inneren Automatismus geben müssen, dass jeder junge Mensch zum Abitur streben muss. Und auch keine Wertigkeit bei der Beurteilung der Abschlüsse.

Muss man jetzt die AFD exkludieren oder inkludieren?

Weder noch. Man muss sie ernst nehmen und sich mit ihren Themen und Argumenten auseinandersetzen. Die AFD ist gefährlich, weil sie mit Ängsten spielt.

Ist Angela Merkel schuld an der AFD?

So weit will ich nicht gehen, aber offensichtlich gibt es ein Spektrum an Wählern vor allem aus der Union, die sich bei der AFD jetzt besser aufgehoben fühlen. Offensichtlich kann die CDU diesen konservativen Teil nicht mehr wie in der Vergangenheit binden. Alle demokratischen Parteien müssen die AfD ernst nehmen und aufzeigen, wie gefährlich deren abstruse Vorschläge für unsere Wirtschaft, unseren Arbeitsmarkt und unsere Gesellschaft wären. Die Strategie ’Wegschauen und Aussitzen’ macht die AfD erst interessant und vermeintlich glaubwürdig.

Redet vor allem über die sozialen Belange der Gesellschaft, Malu Dreyer war bereits zehn Jahre Sozialministerin, bevor sie Regierungschefin wurde.
Redet vor allem über die sozialen Belange der Gesellschaft, Malu Dreyer war bereits zehn Jahre Sozialministerin, bevor sie Regierungschefin wurde.

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Nun klaut die AFD auch der SPD Stimmen. Wie wächst die SPD im Bund mal wieder an die 30-Prozent-Marke heran. Als ewige CDU-Juniorpartnerin?

Wir müssen einerseits gute Regierungsarbeit machen, ob Junior oder Chef, genau das tun wir, beispielsweise beim Mindestlohn. Andererseits müssen wir Zukunftshemen benennen und besetzen: Die digitale Revolution und ihre Chancen und Auswirkungen auf Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft. Alle diese Fragen, vor allem die damit zusammenhängenden Chancen- und Gerechtigkeitsfragen, wie eben auch die der Inklusion, sind sozialdemokratische Kernthemen.

Wenn man Rot-Rot-Grün im Bund wollte, müsste man ja mal im Kleinen anfangen, es auszuprobieren.

Ich werde mich hier nicht als Ratgeberin für Thüringen aufschwingen. Nur so viel: Für die SPD ist es auf Landesebene nun auch keine neue Erfahrung, mit den Linken zu koalieren.

Hat sich Ihre persönliche Haltung zum Thema Inklusion aufgrund ihrer Erkrankung eigentlich nochmals geändert?

Nein, das Thema war für mich schon früher ein sehr wichtiges, weil ich vom Grundsatz her denke, dass niemand aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden darf. Mit dieser Haltung mache ich Politik für Migranten oder auch feministische Politik. So wie ich eine überzeugte Feministin bin, bin ich auch der festen Überzeugung, dass Inklusion richtig ist und unsere Gesellschaft nicht nur menschlicher, sondern auch kompetenter machen wird.

Armin Lehmann, der das Gespräch in Rheinland-Pfalz führte, ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel. Er schreibt vor allem politische Porträts, Reportagen und hat die lokalen Blogs von Tagesspiegel.de mit aufgebaut. Malu Dreyer hat er vor und nach ihrem Amtsantritt mehrfach getroffen und gesprochen.

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