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Mitarbeiter des Gesundheitsamtes Mitte mit Gesichtsschutzschirm telefonieren im Lagezentrum des Gesundheitsamt Mitte.

© Britta Pedersen/dpa

Innovationsfeindliches Deutschland im Lockdown: Mit Faxgerät und Kugelschreiber gewinnen wir nicht gegen Corona

Die Pandemie zeigt erneut, wie bräsig und innovationsfeindlich Deutschland ist, wenn es um Technik geht. Wo ist der Mut zum Experiment? Ein Zwischenruf. 

Was kommt nach dem November-Lockdown? Eine konkrete Antwort auf die Frage ist die Regierung bisher schuldig geblieben.

Und sie ist auch eine weitere Antwort schuldig geblieben: Was ist, wenn am 1. Dezember der Lockdown endet, weil die Neuinfektionen wieder im grünen Bereich liegen - die Neuinfektionen aber Ende Dezember wieder so hoch wie aktuell sind? Die Frage ist keineswegs nur theoretisch.

Israel hat gerade gezeigt, wie man mit einem kurzen Lockdown die Neuinfektionen drastisch senkt, fast um den Faktor zehn. Nun öffnet das Land wieder. Klar ist aber auch, wie der Oktober in Deutschland gezeigt hat: Innerhalb nur eines Monats können die täglich registrierten Neuinfektionen auch um den Faktor zehn steigen.

Folgt am 1. Januar neben dem Silvesterkater also das böse Lockdown-Erwachen? Wieder einen Monat alles dicht? Und im Februar dann wieder offen und im März wieder zu? Sind wir in der Lockdown-Schleife gefangen, bis uns irgendwann Ende 2021 die Impfung erlöst?

Ein Drittel der Deutschen sind Maßnahmen-müde

Theoretisch wäre das Virus wohl so unter Kontrolle zu halten. Nur hat dieses Szenario zwei große Haken: Die Wirtschaft würde das kaum aushalten - allein rund 20 Milliarden Euro wird laut DIW-Schätzungen der aktuelle November-Lockdown die Wirtschaft kosten - und die gesellschaftlichen Verwerfungen würden gefährlich zunehmen. Schon jetzt sagen ein Drittel der Deutschen, dass ihnen der geplante Teil-Lockdown zu weit geht.

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Zwei Dinge werden in diesen Tagen schmerzlich klar. Erstens: Den Regierenden fehlt eine Mittelfrist-Strategie im Kampf gegen das Virus. Zweitens: Die Regierenden haben den Sommer verschlafen, um das Land auf den Corona-Herbststurm vorzubereiten.

Beides könnte auch mit einem Problem zu tun haben, das in den vergangenen Jahren oft angesprochen und beklagt, aber nie richtig angegangen wurde: Deutschland ist bräsig bis hin zu innovationsfeindlich, wenn es um technische Neuerungen geht. Aber gerade in einer Pandemie, mit einer völlig neuen Situation, sind gute Ideen, Kreativität und schnelle, unbürokratische Reaktion gefragt.

Träge Mittel gegen ein blitzschnelles Virus

Dass Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern bei der Corona-Kontaktverfolgung und Übermittlung von Fallzahlen teilweise immer noch mit Kugelschreiber, Excel-Listen und Faxgerät arbeiten, statt digital, ist eines der kurioseren Beispiele dafür, was in der Pandemie schief läuft. Es sind träge Mittel des 20. Jahrhunderts gegen eine blitzschnelle Pandemie des 21. Jahrhunderts.

Einige nicht minder verwunderliche Beispiele lassen sich leicht finden und als Ansätze dafür nehmen, was zu verbessern wäre.

Erstens: Warum ist immer noch unklar, wo wie viele Infektionen stattfinden?

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Noch immer kann das RKI nicht genau sagen, an welchen Orten welches Infektionsrisiko besteht. Seit Mitte Mai sind die Gesundheitsämter eigentlich verpflichtet, Informationen zum wahrscheinlichen Infektionsweg innerhalb von zwei Arbeitstagen dem RKI zu übertragen. Nur passierte das lange nicht. Auch weil es bis Ende September die RKI-Software gar nicht erlaubte, Angaben zum Infektionsort zu melden.

Und so kommt es, dass Experten bis heute im Dunkeln tappen, wo Ansteckungen eigentlich stattfinden. Zielgerichtete Maßnahmen jenseits eines Rasenmäher-Lockdowns sind so kaum möglich. 

Zweitens: Wie sichert man Orte am besten, an denen Infektionen stattfinden? 

Nach mehr als sechs Monaten Pandemie ist es verwunderlich, wie schlecht diese Frage beantwortet ist. Wie sieht ein coronafestes Klassenzimmer aus? Wie ein Restaurant, ein Kino? Fröhliches Herumprobieren im Kleinen ist die Lösung. Aber wo bleiben die großangelegten Studien, warum sind sie nicht längst fertig?

Ein gutes Vorbild gibt es und das zeigt auch, was möglich ist: Im August fanden in Leipzig drei Popkonzerte von Tim Bendzko unter wissenschaftlicher Begleitung statt. Dabei waren bis zu 8700 Zuschauer zugelassen. Die Leitfrage: Wie verlaufen Infektionsketten in so einem Rahmen und wie würde eine weitgehend sichere Veranstaltung aussehen?

[„Wir befinden uns nicht im Ausnahmezustand“, sagt der Verfassungsrechtler Oliver Lepsius. Lesen Sie hier ein Gespräch über die Rechtmäßigkeit der deutschen Corona-Politik.]

Die Antwort: Allein schon eine Halbierung der Zuschauermenge, kombiniert mit Maskenpflicht, festen Sitzplätzen und einem Einlasskonzept, das die Schlangen kurz hält, kann sogar bei Inzidenzwerten um die 50 dazu führen, dass der Beitrag einer solchen Veranstaltungen zur Ausbreitung des Virus in einer Stadt wie Leipzig sehr gering wäre. Es gibt also keinen Grund, solche Veranstaltungen grundsätzlich zu verbieten.

So etwas für ein viel kleineres Restaurant-, Kino oder Schulsetting zu wiederholen sollte ein Leichtes sein. Getan wurde es nicht.

Das Ziel dabei wäre klar: Jeder Aufenthaltsort in Innenräumen außerhalb der eigenen Wohnung müsste „coronaoptimiert“ werden, um möglichst wenig Ansteckungen zu provozieren und gleichzeitig möglichst viel Alltag zu garantieren.

Probanden eines Großversuchs der Universitätsmedizin Halle/Saale verfolgen in der Arena Leipzig ein Konzert des Popsängers Tim Bendzko.
Probanden eines Großversuchs der Universitätsmedizin Halle/Saale verfolgen in der Arena Leipzig ein Konzert des Popsängers Tim Bendzko.

© Hendrik Schmidt/picture alliance/dpa

Drittens: Wo bleibt die Antiviren-Technik? 

Ja, sie kommt langsam, aber man wundert sich, wie langsam. So gibt es schon länger Lüftungssysteme, die bis zu 90 Prozent der Viren aus der Luft zum Beispiel eines Klassenzimmers filtern können. Die Frage: Warum steht nicht in jedem Klassenzimmer in Deutschland schon eines, um das händische Lüften zu unterstützen? 

Teuer muss das nicht unbedingt sein. Das Max-Planck-Institut für Chemie hat eine Filteranlage entwickelt, die man sogar selbst nachbauen kann und die rund 200 Euro kosten soll. Ein guter Deal, bedenkt man, dass Olaf Scholz als Lockdown-Hilfe für Unternehmen allein im November bis zu zehn Milliarden Euro auf den Tisch legt. Immerhin ein erster Schritt: Alle Berliner Schulen bekommen Luftmessgeräte, die anzeigen, wenn gelüftet werden muss. 

Viertens: Warum experimentieren wir nicht mehr?

Ein Beispiel aus Hamburg, von dem die “Zeit” berichtet, ist hier bezeichnend. Die Kurzfassung: Ein Unternehmer und ein Softwareexperte entwickeln eine Möglichkeit für einen „Freipass“. Der erlaubt mit schnellen PCR-Tests für eine bestimmte Zeit eine gewisse Sicherheit, dass man nicht ansteckend ist. In der Zeit kann man ein Konzert, eine Bar oder einen Club besuchen und fast wie in alten Zeiten Spaß haben.

In diesem Zuge wollen die beiden sogar eine innovative PCR-Testtechnik nutzen, die deutlich billiger und schneller ist, als die herkömmliche. Es wäre ein Projekt, das einen Versuch verdient hätte, weil es zu mehr Alltag und weniger Ansteckungen führen könnte. Die beiden Hamburger bekamen von den Behörden in Hamburg die kalte Schulter gezeigt. 

Warum veranstalten die Gesundheitsbehörden nicht im ganzen Land Corona-Hackatons - Vorbild könnte eine Aktion der WHO aus dem April sein - um kreative Ideen wie die aus Hamburg zu entwickeln und anschließend zu testen? 

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Fünftens: Warum ist man so defensiv bei der Corona-App? 

Eine Pandemie des 21. Jahrhunderts lässt sich wahrscheinlich am besten mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts bekämpfen: Einer App. Nun gibt es die schon. Allerdings bleibt sie fast sträflich unter ihren Möglichkeiten.

Die Mitteilungen für die grünen Risikobegegnungen beispielsweise - eine Stufe unter der roten, bei der man sich testen lassen oder in Quarantäne begeben sollte - sind weitgehend wertlos. Man weiß nicht, wo sie stattgefunden haben und was man in seinem Alltag ändern sollte, jenseits der Aha-Regeln, die man ohnehin befolgt.

Mehr bringen würde es, wenn man den jeweiligen Ort der Begegnung wüsste. Dann könnte man diesen Ort künftig meiden oder sich dort anders verhalten.

Ein weiteres Beispiel: Immer noch werden pro Tag nur rund zehn Prozent der Infiziertenfälle in die App gemeldet, obwohl das Tool bisher mehr als 20 Millionen Downloads hatte; es also rund ein Viertel der Deutschen auf dem Handy hat.

Ja, der Datenschutz hört man immer wieder, wenn es um die App geht. Was verwundert.

Die Corona-Warn-App mit der Seite zur Risiko-Ermittlung ist im Display eines Smartphone zu sehen.
Die Corona-Warn-App mit der Seite zur Risiko-Ermittlung ist im Display eines Smartphone zu sehen.

© Oliver Berg/dpa

Denn fast jeder Deutsche überlässt US-Techkonzernen privateste Daten täglich für lau. Und niemanden stört es. Wie wäre es, wenn die App eine Einstellung hätte, die erlaubt mehr Informationen zu teilen, die der Pandemiebekämpfung dienlich sind? Wenn das hilft, weitere Lockdowns zu verhindern, wäre das kein schlechter Deal.

Und vielleicht lässt sich die App sogar noch weiter denken: Als Kontaktzähler.

Jeder App-Nutzer könnte Informationen darüber bekommen, mit wie vielen Menschen er in den vergangenen Tagen in Kontakt war. Die App könnte einschätzen, ob das zu viele sind und ob eine „Kontaktdiät“ für ein paar Tage angebracht wäre. Smartphone-Nutzer lassen inzwischen fast alles von ihren Geräten zählen und überwachen - warum also nicht so etwas Pandemie-entscheidendes wie Kontakte?

Sicher, jede einzelne der Maßnahmen wird die Pandemie nicht stoppen. Aber sie würden wahrscheinlich dazu beitragen, sie beherrschbar zu halten, schneller Infektionsketten nachverfolgen zu können und zu verhindern, dass sie sich an Orten des Alltags erst bilden. Es gar nicht erst zu versuchen, wäre die schlechteste Lösung. Denn dann drohen nur weitere Lockdowns.

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