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Joachim Gauck, ehemaliger Bundespräsident

© Tagesspiegel/Lydia Hesse

Joachim Gauck im Interview: „Unser Grundgesetz verbietet weder Dummheit noch Niedertracht“

Was am 9. November 1989 erkämpft wurde, muss heute selbstbewusst verteidigt werden, sagt der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck. Ein Gespräch über Freiheit und ihren Preis.

Stand:

Herr Gauck, Sie haben den 9. November 1989 als Zeitzeuge erlebt. Was haben Sie bei diesem Datum vor Augen?
Der 9. November war ein Donnerstag, und bei uns in Rostock war Donnerstag immer Demo-Tag. Es begann in den Kirchen, und anschließend gingen wir auf die Straße. Ich war Sprecher des Neuen Forums in Rostock und beendete sehr spät die Demonstration, als zwei Volkspolizisten auf mich zukamen und sagten: „Herr Gauck, da in Berlin ist ja was los. Da scheint ja die Mauer aufzugehen.“ Ich antwortete: „Ist gut, meine Herren. Ich komme gerade aus Berlin. Da geht noch alles seinen sozialistischen Gang. Aber bald wird das anders sein.“

Warum gingen Sie davon aus?
Einen Tag zuvor war ich aufgrund einer Reisegenehmigung, die es bei herausgehobenen Familienanlässen gab, in West-Berlin gewesen. Den kurzen Besuch nutzte ich, um Papier und Material für unsere Flugblätter zu besorgen. Nach der Demonstration schaltete ich dann zu Hause den Fernseher ein – und da kullerten die Tränen.

Ich dachte: Warum bin ich jetzt nicht in Berlin? Dann wurde mir klar: Nur weil wir überall auf der Straße waren, wurde die Mauer hinfällig. Ohne die Menschen auf der Straße wäre es heute im Osten vielleicht wie auf Kuba. Ohne Volk keine Revolution, ohne Revolution kein Wandel.

Haben Sie am Tag vorher schon gespürt, dass sich die Dinge so schnell verändern würden?
Nein, überhaupt nicht. Es war klar, dass das System irgendwann zusammenbrechen musste – die SED hatte keinen Ausweg mehr. Aber dass es so plötzlich kommt, hat niemand erwartet. In den Jahren zuvor hatte ich noch gedacht: Erst meine Kinder werden den Zusammenbruch des kommunistischen Systems erleben.

Der 9. November ist ein besonderer Tag: 1918 Ausrufung der Republik, 1938 Pogromnacht und eben 1989. Wäre das nicht ein gutes Datum für den nationalen Feiertag?
Der 3. Oktober, der die Freiheitsliebe der Deutschen und das Gelingen feiert, ist für die Seele der Nation sehr wichtig. Für mich persönlich, wie für viele Aktive von 1989, war allerdings der 9. Oktober immer der bewegendere Moment: der Tag der ersten großen Massendemonstration in Leipzig, die nicht gewaltsam beendet wurde. Da zeichnete sich ab, dass wir gewinnen konnten. Das war ein Signal: Deutsche können Freiheit. Das müssen wir uns auch heute immer wieder sagen, denn allzu viele vergessen, dass Freiheit das Zentrum unseres Selbstverständnisses sein sollte.

Kriegsverbrechen, die Verletzung rechtlicher Normen überhaupt oder unverhältnismäßige militärische Gewalt und Zerstörung müssen benannt und kritisiert werden, aber wir sollten den Begriff Genozid nicht inflationär verwenden.

Joachim Gauck über die Kritik an Israels Kriegführung in Gaza

Aus welchem Grund haben Sie in diesem Jahr nicht an der Einheitsfeier in Saarbrücken teilgenommen?
Ich war in Irland und habe dort anlässlich des Tages der Deutschen Einheit in der deutschen Botschaft eine Rede gehalten. Das sollte keinerlei Signalwirkung haben. Ich bin mit dem Botschafter dort befreundet.

Machen wir uns etwas vor, was die Lernfähigkeit dieses Landes betrifft? Die Zahl antisemitischer Vorfälle steigt – nicht nur im rechtsextremen Milieu.
Nein. Unser Grundgesetz verbietet weder Dummheit noch Niedertracht. Negative Haltungen verschwinden nicht einfach, egal ob sie bodenständig sächsisch und thüringisch oder arabisch und türkisch sind. Wir müssen uns mit denen auseinandersetzen, die Hass zu einem Teil ihres Lebens gemacht haben. Das gilt für alle Bürger, nicht nur für Institutionen. Wir sind ein Bürgerstaat, nicht nur ein Institutionenstaat.

Brauchen wir mehr Signale gegen solche Entwicklungen?
Wir brauchen vor allem Wachheit. Wir haben seit Jahrzehnten eingeübte Abwehrreflexe gegenüber Rechts – das ist gut. Was lange vernachlässigt wurde, ist die Beschäftigung mit Antisemitismus etwa aus dem arabischen Raum, wo es völlig normal sein kann, mit antisemitischen Vorstellungen aufzuwachsen. Manche haben auch Probleme, über linken Antisemitismus in Deutschland zu sprechen. Egal, wo Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit herrühren: Wir brauchen mehr Entschlossenheit beim Schutz der Menschenwürde.

Joachim Gauck, ehemaliger Bundespräsident, im Gespräch mit Stefanie Witte und Stephan-Andreas Casdorff.

© Tagesspiegel/Lydia Hesse

Was bedeutet Staatsräson heute? Könnte Deutschland etwa Soldaten nach Israel schicken, um Frieden zu sichern?
Nein, das wird keine israelische Regierung jemals wollen. Israel ist verteidigungsfähig – und das bewundere ich. Die Menschen dort wissen, dass Freiheit mit Verteidigungsfähigkeit einhergeht.

Was mich jetzt bestürzt, ist die derzeitige Rechtsaußen-Regierung. Viele meiner Freunde in Israel sind unzufrieden mit dieser Politik. Ich hatte lange Probleme mit dem Begriff Staatsräson, obwohl ich den Grundgedanken teile: Wir sollen das letzte Land sein, das die Solidarität mit Israel verlässt.

Ich bin im Krieg geboren, habe das Wachsen Israels nach dem Krieg von Weitem mit Bewunderung begleitet, mich mitgefreut, dass dort eine Heimstatt für jüdische Menschen weltweit entstand. Ich bin nach 1990 gerne dorthin gereist – heute würde es mir schwerfallen, dorthin zu fahren.

Warum?
Die Freude über die Demokratie ist durch das unsägliche, unverhältnismäßige Vorgehen in Gaza stark getrübt. Natürlich war Israels Verteidigung nach den mörderischen Attacken der Hamas am 7. Oktober gerechtfertigt, aber die Art der Kriegsführung überschreitet das Maß dessen, was ich akzeptieren kann.

Wenn ich das sage, geht es mir ans Herz. Und gleichzeitig frage ich mich immer: Darf ich das sagen, als jemand, der mit Israel befreundet ist? Es belastet nicht nur meinen Kopf, sondern mein ganzes Gemüt. Ich würde dort gerne Freunde treffen. Ich habe große Achtung vor denen, die für den Rechtsstaat, Freiheit und Demokratie kämpfen. Aber insbesondere die Parteien am rechten Rand, auf die sich Netanjahu stützt, mit einer arroganten Sicht auf die palästinensische Bevölkerung, erzeugen bei mir einen solchen Widerwillen, dass ich froh bin, nicht hinfahren zu müssen.

Sabotage, Cyberangriffe, Desinformation, Angriffe auf kritische Infrastruktur – Russland greift uns bereits jetzt mit hybriden Mitteln an.

Joachim Gauck

Es wird von Genozid und Kriegsverbrechen gesprochen. Wie sehen Sie das?
Genozid ist ein sehr spezifischer Begriff – die planvolle Vernichtung einer Gruppe aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Nationalität oder anderer Merkmale. Das trifft auf den Holocaust zu. In der aktuellen Situation würde ich den Begriff nicht verwenden. Kriegsverbrechen, die Verletzung rechtlicher Normen überhaupt oder unverhältnismäßige militärische Gewalt und Zerstörung müssen benannt und kritisiert werden, aber wir sollten den Begriff Genozid nicht inflationär verwenden.

Vor allem ist es Zeit für eine Bundespräsidentin.

Joachim Gauck

Wie kann es konstruktiv weitergehen – etwa beim Jugendaustausch?
Alle Formen von Austausch sollten gefördert werden. Es gibt die Diskussion beim ESC oder im Sport, Israel auszuschließen, auch Boykotte, die israelische Wissenschaftler und Künstler betreffen. Ich halte das für eine falsche Strategie, zumal viele der Betroffenen Gegner der Politik Netanjahus sind. Für uns Deutsche sollte gelten: berechtigte Kritik – ja. Aber: das politische Bauwerk Israel ist insgesamt zu kostbar, als dass wir uns von denen trennen dürften, mit denen wir grundlegende Werte teilen.

Wäre es Zeit für eine Bundespräsidentin mit jüdischen Wurzeln?
Vor allem ist es Zeit für eine Bundespräsidentin. Jüdische Wurzeln könnten mir persönlich gut gefallen. Aber ich habe meine protestantischen Wurzeln auch nicht in den Vordergrund gestellt, als ich Präsident war. Entscheidend ist, dass die Person demokratisch handelt und das Land liebt. Die Glaubensrichtung ist dabei nebensächlich. Wenn wir in eine andere Richtung blicken, könnte beispielsweise eine Persönlichkeit wie Cem Özdemir das auch.

Wer Bildung, Verantwortung und Liebe zur Demokratie mitbringt, kann dieses Amt ausfüllen. Und wer auch immer es werden wird, er oder sie wird getragen sein von der Erkenntnis: Deutschland ist nicht nur geprägt von unsäglichen Verbrechen, sondern auch von großartigen Erfolgen wie dem Demokratiewunder neben dem einstigen Wirtschaftswunder.

Karin Prien ist Bundesministerin für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sie gilt als Kandidatin für die Nachfolge von Bundespräsident Steinmeier.

© Imago/Political-Moments

Was ist heute wohlverstandener Konservatismus?
Konservativ heißt, Bewahrenswertes zu bewahren und Veränderung behutsam zu gestalten, ohne Menschen zu überfordern. Etwa ein Drittel der Bevölkerung hat strukturkonservative Prägungen und Bedürfnisse. Die Menschen wollen im Vertrauten verbleiben. Heute profitieren Rechtsaußenparteien von den Ängsten vor der Unsicherheit in diesen Zeiten rascher technologischer, politischer und kultureller Veränderungen.

Wenn es da keine starke konservative Mitte gibt, die angemessen auf diese Ängste und Besorgnisse reagiert, wandern diese Wähler nach Rechtsaußen ab. Beispiele aus Europa zeigen, dass kluges Agieren gegen Rechtsaußen wirken kann. Politiker wie Mette Frederiksen in Dänemark haben auf die Sorgen der Bürger reagiert und konnten so Wähler zurückgewinnen.

Ein Leben, das von Verantwortung geprägt ist, macht zufriedener als eines, das Verantwortung scheut.

Joachim Gauck

Wie kann sich die liberale Demokratie heute behaupten?
Die Demokratie darf nicht vor Angst schlottern. Es ist erschreckend, dass ein Teil unserer Wählerschaft Leuten hinterherläuft, die noch nie ihre gestalterischen Qualitäten nachgewiesen haben, noch über ein halbwegs plausibles Zukunftsszenario verfügen. Was erwarten die von einer solchen Partei? Sie suchen Trost, weil sie von anderen Parteien enttäuscht sind.

Aber wir dürfen doch nicht vergessen, was unsere Demokratie trotz zahlreicher Mängel erreicht hat: Wohlstand, Rechtssicherheit, Sozialstaat, Frieden mit all unseren Nachbarn. All dies ist auch errungen worden durch aktive und eigenverantwortliche Bürgerinnen und Bürger. Aber es gibt eben immer auch Menschen, die lieber geführt werden, als selber Verantwortung zu übernehmen.

Wir werden lernen müssen, uns zu verteidigen, eine Wehrpflicht, die uns ausreichend abwehrfähig macht, ist unbedingt erforderlich.

Joachim Gauck

Welche Konsequenzen hat das?
Ein Leben, das von Verantwortung geprägt ist, macht zufriedener als eines, das Verantwortung scheut. Manche gehen nicht einmal wählen. Auch am Ende der DDR gab es diejenigen, die gerade noch aufbrechende, ermächtigte Citoyens waren und dann aber die Übernahme von Verantwortung scheuten und sich lieber führen lassen wollten. Damit müssen wir rechnen.

Aber: Wer nur geführt werden will, versäumt die schönste Form der Freiheit, die Freiheit zu etwas und für etwas. Die autoritären Bewegungen werden dann überall zu Sammelbecken derer, die weniger ihren eigenen Kräften als „starken“ Führern vertrauen.

Ein letztes Thema: Für wie wahrscheinlich halten Sie einen Krieg mit Russland, an dem Deutschland direkt beteiligt wäre?
Sabotage, Cyberangriffe, Desinformation, Angriffe auf kritische Infrastruktur – Russland greift uns bereits jetzt mit hybriden Mitteln an. Eine zusätzliche konventionelle Auseinandersetzung würde nicht dadurch entstehen, dass Berlin belagert wird, sondern indem ein Teil des Nato-Gebiets angegriffen wird.

Putin geht heute von der Vorstellung eines russischen Imperiums aus. Dadurch rücken die Menschen im Inneren zusammen. Er missachtet das Recht und setzt Herrschaftstechniken ein, die er in der Sowjetunion gelernt hat, die Annullierung der Rechte des Einzelnen und die Inbesitznahme des Rechts. Das ist besonders gefährlich. Deswegen müssen wir wachsamer sein, uns vom Wunschdenken verabschieden und bereit werden, zu verteidigen, was uns wichtig ist. 

Sind wir Deutschen auf Krieg und Krisen ausreichend vorbereitet?
Nein, selbstverständlich nicht. Als Liebhaber des Friedens fällt es mir schwer, ständig über Verteidigung sprechen zu müssen. Aber Freiheit und Recht sind so kostbar, dass wir sie verteidigen müssen. Wenn es in der Politik die Dimension des Heiligen gäbe, würde ich sagen: Das ist mir heilig. Das heißt, ich warte nicht ab, bis ein Verbrecher diesen Raum der Möglichkeiten einnimmt. So wie wir uns im Inneren gegen Verbrecher mit bewaffneten Polizisten wehren, so müssen wir uns auch verteidigen, wenn das Recht im Äußeren gebrochen wird.

Wir werden lernen müssen, uns zu verteidigen, eine Wehrpflicht, die uns ausreichend abwehrfähig macht, ist unbedingt erforderlich. Junge Generationen könnten heute eher verstehen, dass man den Frieden schützt, indem man sich auf mögliche Konflikte vorbereitet. Die romantische Verklärung einer Friedensära hilft uns nicht weiter.

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